20
Aug
2011

Der Tanz der Gerichtsbarkeit — um das 'in dubio pro reo' herum

Es waren jüngst über einen längeren Zeitraum hinweg die Gemüter durch einen äußerst spektakulären Mordanschlag erregt. Eine Finnin war, des Mordes am Ehegatten bezichtigt, nahezu zwei Jahre im Gefängnis eingesessen. Seit Ende Mai diesen Jahres ist sie plötzlich wieder frei.

Gemäß der mehrheitlichen Überzeugung eines finnischen Schöffengerichts, das mit der strafgerichtlichen Verhandlung in der Sache fürs erste betraut war, hatte am ersten Dezembertag des Jahres 2006 im südfinnischen Ulvila Anneli Auer während eines häuslichen Streits ihren Mann erstochen. Festgenommen wurde die Frau aber erst beinahe drei Jahre später, im September 2009.

Mehr als ein Jahr darauf, nach einer eingängigen Untersuchung auf den Geisteszustand, wurde die Frau sodann in einem unter vier Schöffenrichtern abgewogenen Urteil, von denen vier für schuldig, einer hingegen für nicht schuldig abstimmten, für den Mord am Ehegatten zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Am 1. Juni diesen Jahres ist die Mutter von vier Kindern nun vom Landgericht in Vaasa, das das Verfahren anfang des Jahres übernommen hatte, mit einem neuerlichen Richterspruch für unschuldig befunden worden. In Erwartung eines solchen Prozeßausganges wurde die beschuldigte Witwe bereits am 25. Mai überraschend auf freien Fuß gesetzt.

Anneli Auer will jetzt vom Staat beträchtlichen Schadensersatz verlangen für ihre Zeit im Gefängnis. Ihr Rechtsanwalt Juha Manner betont in einem dieser Tage gemachten Statement, daß eine saftige Schadensersatzforderung auf jeden Fall erhoben würde, ungeachtet dessen, daß der Ankläger in dem Prozeß sich dazu entschlossen hat, am Obersten Gerichtshof um ein Revisionsgesuch nachzusuchen.

Auer saß über 600 Tage im Gefängnis ab. Für gewöhnlich gäbe es für einen unschuldig in Haft verbrachten Tag in Finnland ungefähr 100 Euro, es hätte aber zum Beispiel der Beschuldigte von Bodom, Nils Gustafsson, 300 Euro pro Tag bekommen, unter anderem wegen der großen Publizität, die sein Fall ausgelöst hatte. Dabei handelte es sich um einen Mord an einem See namens Bodom, 22 km vor Helsinki, bei dem im Jahre 1960 drei campende Jugendliche getötet worden waren, und der Vierte der Gruppe, bei dem Anschlag nur leicht verletzt, fast 45 Jahre später, angeblich mittlerweilen zu überführen durch neue DNA-Auswertungen von altem Indizienmaterial, beschuldigt des Mordes an den damaligen Freunden in Haft genommen wurde — nur um 20 Monate später aufgrund mangelnder eindeutiger Beweise freigesprochen zu werden. (Die finnische Heavy-Metal-Band Children of Bodom bezieht ihren Namen von daher).

Im Falle Anneli Auer lag die Aufzeichnung eines Telefongesprächs vor, eines Notrufs, den die Frau, eine vierfache Mutter, zum Zeitpunkt der Mordtat bei der Polizei getätigt hatte. Auf diesem Mitschnitt war, nebst anderem, teilweise unverständlichen Repliken, noch das Wimmern des Getöteten zu hören.

Anfangs war man durchaus davon ausgegangen, daß es der Wahrheit entspräche, was die Frau gleich sofort und auch bis zuletzt immer wieder beteuerte: ihr Mann sei von einem ins Haus eingedrungenen Fremden umgebracht worden, auch sie selbst hätte dabei einen Messerstich in der Brustgegend abbekommen.

Doch geriet die Frau sehr bald in immer schwerwiegendere Beweisnöte, da beträchtliche Zweifel an ihren Darstellungen aufkamen, Zweifel, die zunächst jedoch sich nicht so ohne weiteres erhärten ließen. Daraufhin wurde dann im Sommer 2009 ein operativer Polizeispitzel auf die verdächtigte Frau angesetzt, der sich als vermeintlicher Freund des Hauses und womöglicher Liebhaber der Witwe - immerhin waren mittlerweile über zwei Jahre seit dem grausigen Ereignis verstrichen - deren Herzen und Vertrauen allmählich erschleichen sollte.

Der Polizist, der in einer verdeckten Operation Anneli Auer in näheren Augenschein nahm, war allerdings angeleitet worden, die Beziehung in einem kameradschaftlichen Rahmen zu belassen. Ein der Öffentlichkeit nun zur Verfügung gestellter Teil des Protokolls der verdeckten Operation enthüllt, daß Sex mit dem Zielobjekt verboten gewesen sei. Der V-Mann sollte auch bestrebt sein, die Lage von Auers vier minderjährigen Kindern zu berücksichtigen. In einem im Vorfeld der Operation angefertigten Einführungsmemorandum und im Beschluß des Chefs der Kriminalpolizei wurde festgehalten, daß die Kinder nicht zu einer Zielscheibe der verdeckten Handlung werden dürften und daß ihnen keine Fragen gestellt würden, die sich auf den Fall beziehen.

Laut Protokoll wurde im Jahre 2009 fünfzehn mal solch ein operativer Vorgang durchgeführt. Bereits zu Anfang der Aktion bestand aber vorab die Einschätzung, daß Auer mit der Ermordung ihres Ehemannes zu tun hätte, und daß sie als Täter in Frage komme.

Gegen Schluß jener verdeckten Operation gab Auer dem Polizisten schließlich Bescheid, daß sie vermutete, er sei entweder Polizist oder Journalist.

Die Polizei stufte im Protokoll das Ergebnis der verdeckten Operation als beachtenswert ein. Man war der Ansicht, diese hätte das charakterliche Wesen von Frau Auer erhellt, aber auch erkennen lassen, daß die Redensarten von Frau Auer bezüglich der Verbrechenstat sich nicht mit dem Geschehenen deckten.

So wurde Anneli Orvokki Auer aus dem südfinnischen Ulvila, verdächtigt eines verfemten Mordanschlags am eigenen Ehegatten, in Haft genommen.

Offiziell hieß es zwar dabei, die Detektivarbeit des Spitzels hätte zu keinen neuen Erkenntnissen geführt.

Kurz vor der Inhaftierung war bei den finnischen Behörden aus den USA das Ergebnis einer beim CIA in Auftrag gestellten Stimmenanalyse des erwähnten Notrufs eingetroffen, welche besagte, daß außer den Stimmen der Witwe, deren Kindern und des Opfers keine fremde Person auf dem mitgezeichneten Telefongespräch auszumachen gewesen sei.

Nach Anschauung des Gerichtes sprach die Aufzeichnung des Notrufs, welcher bestätige, daß der Zustoß mit der Waffe, der zum Tode des Mannes führte, sich zu einem Zeitpunkt ereignete, als Auer nicht am Telefon war, anfänglich stark für den Anklagevorwurf.

Laut dem Landgericht sei es hingegen eher unwahrscheinlich, daß Anneli Auer in der kurzen Zeit nach dem Gespräch den Ort des Geschehens so inszenieren hätte können, um auf einen außenstehenden Täter hinzuweisen. Die angeführten Beweise seien für den Aufrechterhalt der Anklage nicht hinreichend gewesen und es wären ernstzunehmende Zweifel an der Schuld der Angeklagten letztendlich nicht aus dem Weg zu räumen.

So konnte der Täter nicht gewußt haben, ob die Polizeistreife sich in Ulvila oder in Pori befand, als Frau Auer den Notanruf tätigte. Wäre die Streife in Ulvila gewesen, wäre die Polizei innerhalb von zwei Minuten an Ort und Stelle gewesen, und nicht erst viel später, wie in Wirklicht geschehen.

Bei alledem hatte sich die beschuldigte Frau die ganze Zeit über partout nicht von ihrer Darstellung abbringen lassen, ein von ihr unerkannter Eindringling hätte die Bluttat auf dem Gewissen.

Anneli-Orvokki-Auer

Auch hatte bis über das Urteil auf Lebenslänglich durch das Schöffengericht hinaus zu der Frau und deren Version der Ereignisse an jenem tragischen Tag im Dezember 2006 ein Polizeihauptkommissar gestanden, derjenige, der zunächst als erster - und zwar bis zum Einsatz des Polizeispitzels und dem Stimmanalysenergebnis aus Amerika - die Untersuchung des Falls geleitet hatte, der auch bis zuletzt vor Gericht bekundete, er sei weiterhin von der Unschuld der Frau überzeugt.

Späterhin hatte es irgendwann dann geheißen, jener gewisse Polizeihauptkommissar wäre jetzt zur Ordnungspolizei versetzt worden - aus Gründen einer polizeidienststelleninternen Rotation.

Was sollte man davon halten?

Während seiner Anhörung vor dem Schöffengericht hatte besagter Untersuchungsleiter im Mordfall von Ulvila, Polizeihauptkommissar Juha Joutsenlahti, u.a. folgende Umstände aufgelistet, die seiner Meinung nach für die Unschuld von Anneli Auer sprächen:

- Die eigenen Darstellungen von Frau Auer, die auch durch die Rekonstruktion durch die Polizei bekräftigt werden

- die spontane, unmittelbare Aussage eines der Kinder bezüglich des Täters

- Blutspuren im Kaminzimmer

- Spuren der Fußbekleidung

- Blutspuren an der Türe und auf der Terrasse

- die dunklen Fasern, deren Herkunft unbekannt

- die Fasern hauptsächlich an der Stelle, wo Herr Lahti, Anneli Auers Gatte, ermordet wurde

- die DNA-Spur auf dem Holzklappstuhl, die man nicht in der Lage sei abzuklären

- die Berichterstattungen des Nachbarn

- die Berichte von Frau Auer hinsichtlich eingangs vernommenem Herumgepolter auf der Terrasse

- das Messer, das einer professionellen Serie zugehört

- die Tatsache, daß Frau Auer unbefleckt von Blut war, kein Blut an den Kleidern, keines an den Händen, keines in den Haaren

- keinerlei Spuren, die auf einen Waschvorgang hingedeutet hätten

- blutende Schrammen auf der Fußsohle von Frau Auer

- das zweite Werkzeug, mit dem die Tat ausgeführt wurde, das weiterhin verschollen bleibt

- ein Polizeihund, der eine Spur ausmacht

- die Profilierung des Täterbildes, die für einen außenstehenden Täter spricht.

Gemäß Polizeikommissar Juha Joutsenlahti sei Rache das Motiv für den Mord an Jukka S. Lahti gewesen, eine Vergeltungstat für eine erfahrene Ungerechtigkeit.

Laut Joutsenlahti weise bereits die Art des Sich-Einschleichens in das Eigenheim von Herrn Lahti und Frau Auer unbestreitbar daraufhin, daß die Ermordung von Herrn Lahti eindeutig vorsätzlich und von langer Hand geplant war. Daß zwei Waffen im Gebrauch waren, zeuge laut dem ehemaligen leitenden Hauptkommissar von einer außergewöhnlichen kriminellen Intentionalität.

Die Verunstaltung des Gesichts von Herrn Lahti wäre zudem für den Täter von einer Bedeutung gewesen.

Laut Joutsenlahti hatte der Täter kein Risiko gescheut, um Herrn Lahti umzubringen.

Joutsenlahti berichtete des weiteren, daß Jukka S. Lahti an seinem Arbeitsplatz mit relativ haßerfüllten Ausdrücken umschrieben wurde. Die Beschimpfungen hätten u.a. mit einem Handicap von Lahti zu tun. Lahti war ein Mann von kleinem Wuchs, der auf einem Bein behindert war.

Es hätte Androhungen gegeben, man hätte aber nicht herausfinden können, von woher, von wem diese stammten.

Joutsenlahti gab vor Gericht einen langen und sehr detaillierten Bericht dazu ab, wie sich nach seinen Vorstellungen alles am 1. Dezember 2006 im Tähtisentie-Weg zu Ulvila abgespielt hatte.

Für den Täter (oder die Täterin) wäre es ein leichtes gewesen, Lahti auf der Stelle zu töten, hätte er (oder sie) dies nur gewollt. Doch, anstatt das zu tun, stach er (oder sie) 70 Mal an verschiedenen Stellen des Körpers ein, zum Beispiel aber nicht ins Herz, was unmittelbar zum Tod geführt hätte.

Joutsenlahti will es deshalb nicht einleuchten, wie Frau Auer einen solchen kaltblütigen Täter hätte abgeben können.

Warum hätte eine Mutter von vier Kindern sich selbst das Messer in die Brust rammen, sich selbst eine lebensgefährliche Verwundung zuführen sollen? Warum läutet Frau Auer bei der Notrufzentrale an, wenn sie gerade dabei gewesen sein sollte, ihren Mann umzubringen, fragte Joutsenlahti vor Gericht.

Nach etwas über einem Monat nach Abschluß der Schöffengerichtsverhandlung, bei der per Mehrheitsurteil die lebenslange Haftstrafe angeordnet wurde, erhielt Joutsenlahti eine schriftliche Zurechtweisung. Der Verweis wurde persönlich vom Polizeichef der Stadt Pori überreicht.

Der Polizeikommissar hätte die laufenden Untersuchungen kommentiert, obwohl er gar nicht mehr mit der Leitung bei der Aufklärung des Falls betraut gewesen sei. Er hätte in der Sache aber auch eigenmächtig Nachforschungen angestellt.

Die Ehefrau des Getöteten hatte mit dem ergangenen Urteil für die Schandtat als schuldig zu gelten.

Nun ist sie doch aus ihrer Schuld entlassen worden.

Die vom Landgericht Vaasa freigesprochene Anneli Auer bezichtigt mittlerweile die Polizei der Parteilichkeit bei der Prüfung des Tatbestandes vor der Hauptuntersuchung. Laut Auer hätte die Polizei bewußt Material, das gegen ihre Schuld gesprochen hätte, außer Acht gelassen und verheimlicht. Sie gibt in ihrer Stellungnahme an, daß sie nun mehr als erfreut sei über das befreiende Urteil des Landgerichts.

Anneli Auer hatte, als ihr Mann noch am Leben war, im Internet Dienstleistungen und Bonmots angeboten - darunter, neben einem Rezept für traditionelles Spritzgebäck und selbstgebrauten Most, oder dem witzig gemeinten Hinweis, ein "Skelett im Kleiderschrank zuhause sorge immer wieder für Schrecken, aber auch für Spaß", zum Beispiel auch Tipps zur Vermeidung von Krach unter Ehepartnern. Diese Aktivitäten hätten ihrem Ehemann angeblich nicht gepaßt.
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