Die Geschichte des finnischen Underground - ein Land strampelt sich von seinen altväterlichen Zwängen frei
Als man in Finnland noch in der Zeit lebte, da in den Restaurants Krawattenzwang herrschte und Verhütungsmittel als "sanitäre Gebrauchsartikel" galten, wurde in Turku und in Helsinki eine neue Untergattung von Kultur geschaffen, in welcher mutig der Gebrauch von berauschenden Mitteln, unterschiedliche Musikstile und eine avantgardistische Performancekunst untereinander verquickt wurden. Die zwischen den Jahren 1967 und 1970 mit weitreichenden Auswirkungen in Erscheinung getretene Underground-Bewegung behauptete sich auf dem musikalischen Sektor durch eine Kapelle aus Turku namens Finnlands Winterkrieg 1939-1940, sowie durch The Sperm aus Helsinki, deren Mitglieder Musik und avantgardistische Aktionskunst miteinander in Einklang brachten.
Die ausklingenden 1960er Jahre waren in etlicher Hinsicht eine Zeit des Umbruchs gewesen. Gleichzeitig, als patriotisch gesinnte Hochschulstudenten Fackelumzüge veranstalteten, zeigten in Kreisen junger Intellektueller radikale kulturelle Tendenzen allerlei tückische Gesichter. Radikale jugendliche Kulturschaffende fanden sich aus den Reihen von auf Tourneen gehenden Musikern, Theatermachern und Literaten, sowie auch aus denen avantgardistischer Künstler zusammen. Die jungen Intelligenzler waren an Waffenabrüstung, an Problemen, die mit dem Rassismus zusammenhingen, an Sexualpolitik, und an der Erweiterung ihres Bewußtseinshorizonts interessiert - ganz zu schweigen davon, daß sie drauf und dran waren, eine neuartige, revolutionäre Kultur ins Leben zu rufen.
Radikalisierte Studenten entdeckten eine Seelenverwandtschaft mit dem kulturumwälzenden Jungvolk und trugen ihrerseits zum Aufkommen von neuartigen musikalischen Strömungen in Finnland bei. In der Musikszene passierte eine kleine Revolution, als die Leute merkten, daß das Aufnehmen einer Schallplatte eigentlich gar nicht so teuer kommt. In den Jahren 1967-68 wurde denn auch in Eigenregie eine gewaltige Menge davon in Umlauf gebracht. Durch das Zusammenwirken von Hippiebewegung, experimenteller Musik, der avantgardistischen Kunst und der kulturell radikalen, das Établissement in Frage stellenden Intellektuellen kam Mitte der 1960er Jahre eine Underground-Bewegung auf, die ihre Wesensart aus ebenjenen genannten Elementen bezog. Oft wird die Underground-Bewegung der Punk-Bewegung zugeschlagen, viel eher könnte man aber sagen, daß der finnische Punk aus dem Underground hervorging, oder aus dessen Aschenglut.
Als einen Startschuß für das Entstehen des Underground darf man gewissermaßen die Kulturtage von Jyväskylä des Jahres 1966 rechnen, auf denen der Student Mauri Antero Numminen einen kleinen Skandal auslöste, indem er dem Festpublikum einen Leitfaden zu sexuellem Verhalten vorsang. Numminen wurde samt seiner Kapelle des Festgeländes verwiesen, und es war ihm und seinen Mannen keineswegs gelungen, die Polizei davon zu überzeugen, daß sie völlig innerhalb den Schranken des Gesetzes gehandelt hätten, da sie doch nur Abschnitte aus einem Leitfaden vortrugen, den "selbst ein jedes Kind im Buchhandel erwerben und lesen kann". Die Staatsgewalt war vielmehr der Anschauung, daß Numminen ernsthaft gegen die zwischengeschlechtliche Disziplin und gegen die Regeln eines gesitteten Verhaltens verstoßen hätte. Seither sind die Kulturtage von 1966 vornehmlich unter der Bezeichnung (Sexual-)Sommer von Jyväskylä bekannt.
Die Underground-Bewegung war von ihrer Personenzahl her nicht weltbewegend gewesen. In den Underground-Zirkeln von Helsinki turnten nicht einmal 50 Leute herum. Für deren eigentliches Entstehungsjahr mag man das Jahr 1967 halten. Im selben Jahr war Jimi Hendrix im Haus der Kultur aufgetreten, und die im Geiste von Woodstock fortlebende Hippie-Idee hatte in Finnland eingeschlagen. Am Allerheiligentag 1967 trat die legendäre Underground-Band The Sperm - ursprünglich unter dem Namen "die Heiligen Männer" gegründet - zum ersten Mal als solche ins Erscheinungsbild. In der Besetzung waren anfangs der Kunstkritiker J.O. Mollander, der Schmalfilmregisseur Peter Widén und der Musiker Pekka (Acu) Airaksinen dabei. Späterhin, im Sommer 1967, war, als Leitfigur von Sperm, der wahre Agitator der Gruppe gefunden worden, der Performance Champion Mattijuhani Koponen.
Sperm sog in sich Einflüße auf sowohl vom Jazz der Avantgarde als auch von der experimentellen Gegenwartsmusik, wie von Hendrix und The WHO. Beim Erzeugen ihrer Musik wurde reiner Krawall als Element eingesetzt, im Zusammenspiel mit verrissenen E-Gitarren, einer heidnischen Urwaldtrommel, einem Saxophon und wuchtigen Piano-Solo-Einlagen. Als Instrumente dienten auch Autoschlüssel und ein alter Plattenspieler, auf dem man zur Würzung der restlichen Musik Pornoplatten abspielen ließ. Neurotisches Gelärme und wild avantgardistische Aktionskunst-Bühnenstücke ließen die Vorstellungen von Sperm zu facettenreichen, interdisziplinären Kunst-Events werden, bei denen es passieren konnte, daß von der Bühne aus schon mal lebende Hühner und Essenswaren ins Publikum flogen. Zuweilen lagen die Mitglieder der Band in Särgen auf der Bühne herum. Sperm war um ein paar Jahrzehnte der verwegenen Theatergruppe °Jumalan teatteri [Theater Gottes] um Jouko Turkka voraus.
Sperm brachte eine Mini-LP und im Eigenverlag eine Langspielplatte heraus. Der kommerzielle Erfolg beider fiel jedoch schwach aus. Die Gruppe veranstaltete im Februar 1968 im Haus der Kultur ein dreitägiges Sperm-Festival, für welches ganze 42 Eintrittskarten verkauft wurden. Die Bandmitglieder kümmerten sich allerdings nicht weiters ums Publikum, sondern zogen, bekifft, wie sie waren, zum eigenen Vergnügen ihre Licht- und Klangperformance-Kunst durch.
Der revolutionäre Charakter der Umtriebe der Gruftigruppe The Sperm steht auf dem Felde der Musik, der Politik, des Theaters, der Religion, sowie auf dem aller schönen Künste unübersehbar im Raum. Sperm ist ein Phänomen, das mit den Nachwehen eines Scheißintellektuellismus in die Welt gesetzt wurde. Hier ein paar Worte zum Scheißintellektuellismus: "Man könnte diesen auch als Radikalismus mit kurzgeschorenen Haaren oder als politisch korrekten Radikalismus bezeichnen. (...) Da kam dann die Gruftiband Sperm Ende der '60er daher. Ihnen ging es bei allem um Erfahrungen über den eigenen Körper. Für sie waren Schall, Licht und Berührung von großer Bedeutung. Bereits während ihren ersten Vorstellungen schickten sie eurer Verbissenheit und eurer faschistischen Plackerei eine bittere Pille der Botschaft entgegen, ihr hattet es aber selbst dann noch nicht begriffen, als es schon zu spät war." - Ein Zitat aus den Sperm-Veröffentlichungen.
Koponen sagt im Buch "Die erste Welle": "Ich hab' mich seinerzeit aus Lappeenranta davongemacht. Ich wurde während des Krieges geboren, -41, in einem Arbeiterhaus, in keiner politisch motivierten, aber in einer eindeutig sozialdemokratisch eingestellten Familie der Arbeiterklasse. In meiner Jugend kam es jedoch so, daß ich in Lappeenranta der Nationalen Jugend der Sammlungspartei [kokoomus] angehörte - hauptsächlich deshalb, da dort alle Kumpels waren. Dort konnte man Tischtennis spielen, mit den flotten Mädels herumschäkern, man durfte Spielfilme anschauen, wenn es auch sonst da nicht viel mehr zu sehen gab."
Mattijuhani Koponen darf widerspruchslos als der finnische König des Underground betrachtet werden. Wer wäre sonst schon in seinen radikalen Einfällen so weit gegangen wie Koponen. Bevor er im Hafen von Sperm anlegte, hatte Koponen den Kirchenchor, die Armee, das Gefängnis abgeklappert, hatte im Studententheater von Turku, von Helsinki und von Jyväskylä geschauspielert und hatte Erfahrung im Arbeitsleben gesammelt, indem er in Deutschland Zeitarbeit verrichtete und in Paris sich als "Aupair-Mädchen eines Schwulenpaares" verdingte.
Im Jahre 1968 veranstaltete das Kulturzentrum der Studentenschaft der Universität von Helsinki zu Ehren des Entstehungstages der Erklärung der Menschenrechte eine Festlichkeit. Mattijuhani Koponen war zu dem Fest geladen worden, um ein Gedicht vorzutragen. Das Gedicht krönte eine Striptease-Aufführung Koponens, was ihm natürlich weithin schwer übel genommen wurde.
Ein weitaus größerer Skandal kam auf, als Koponen am 2.12.1968 in einem "klassischen Konzert mit avantgardistischer Musik" auf dem Flügel des Alten Studentenhauses seine legendäre Köpulations-Performance-Nummer hinlegte. Sinn und Zweck der Aufführung war es, ein "Herbeimassieren des Friedens" und die Geburt eines neuen Zeitalters zu symbolisieren. Koponen hat steif und fest behauptet, daß ein wirklicher Akt sich niemals zugetragen hätte, da er fürchterlich angespannt, und es auf der Bühne viel zu kalt gewesen sei, um aus der Sache etwas richtiges werden zu lassen. Obendrein wäre seine Partnerin, deren Name Koponen bis auf den heutigen Tag nicht der Öffentlichkeit preisgegeben hat, wegen einer am gleichen Tag eingesetzt habenden starken Menstruation an strategischen Plätzen zugeklebt gewesen.
Ein Jahr später, am Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte von 1969, wurde Koponen von Polizisten festgenommen, der daraufhin, nach einer Zwischenstation im Jugendgefängnis von Kerava, im Bezirksgefängnis zu Turku einsaß. Sein Urteil: Zwei Monate für den Gedichtsvortrag mit Striptease, fünf Monate für den Flügel-Akt minus einem Monat dafür, daß er Ersttäter war.
Finnlands Underground war aber sicher mehr als nur The Sperm und Mattijuhani Koponen. Die Underground-Zirkel von Helsinki brachten das radikale Blatt Ultra heraus, das dem System im ganzen eine Abfuhr erteilte, und das auch ins Augenmerk des Ministeriums fürs Rechtswesen geriet, als es die Jurisprudenz, den Präsidenten, die Polizei und im allgemeinen die Staatsgewalt herabsetzte. Eine beachtliche Underground-Band war auch das elektrische Quartett von M.A. Numminen (Sähkökvartetti), das eine aus Komponenten, die aus dem Alteisenhandel stammten, zusammengeschusterte Vorrichtung war, die mit vier Instrumenten verbunden wurde. Numminen, Markku Into, Jarkko Laine und Kollegen betrieben eine Zeitlang sogar auf Yle, Finnlands nationaler Radio- und Fernsehanstalt, ein Radioprogramm unter dem Namen Going Underground [Maanalaista menoa].
Der Underground von Helsinki und derjenige von Turku wichen in beträchtlichem Maße voneinander ab. Die Kapelle Finnlands Winterkrieg 1939-1940 bestand von ihrer Besetzung her hauptsächlich aus Leuten aus Turku, und machte Musik mit einer leicht unterschiedlichen Einstellung im Vergleich zu The Sperm. Finnlands Winterkrieg erging sich ebenso in multidimensionaler Aktionskunst, allerdings mit einer bodenständigeren und humorvolleren Annäherungsweise. Zu einer gewissen Galionsfigur für Finnlands Winterkrieg stieg der bereits verstorbene Rauli "Badding" Somerjoki aus Somero auf. Sperm ließen sich vom "System" am Arsch lecken, Finnlands Winterkrieg trat hingegen gerne auf Veranstaltungen politischer Organisationen, wie auch am Tag der Offenen Tür von Verlagshäusern auf. Neben Badding machten sich bei Finnlands Winterkrieg u.a. M.A. Numminen, Markku Into und Jarkko Laine einen Namen. Die Musik von Winterkrieg war von ihrem Stil her bluesrockinspiriert und traf sogar den Nerv der breiteren Massen des Volkes. Die Texte der Lieder waren leicht nachvollziehbar und dürfen als ein bemerkenswerter Wegbahner für das Entstehen der finnischen Rocklyrik angesehen werden.
Die Underground-Schule von Helsinki unterschied sich in ihrer Rauschmittelpolitik von jener aus Turku insofern, als in der Hauptstadt man sich bekiffte, in Turku hingegen man sich mit Alkohol zudröhnte. Die Kollegen aus Helsinki hielten die Gruftis aus Turku zwar für ordentliche Typen, wenn auch für weniger ernst zu nehmende Erbauer einer Untergrundkultur der leichteren Sorte.
"Ich habe in den Geschichten der Jungs aus Turku mehr ästhetische Spielerei als echten Underground gesehen, zu welchem es meines Erachtens immer gehört hat, daß man bereit ist, physisch sein Allerletztes herzugeben." - Mattijuhani Koponen im Buch "die erste Welle".
Mit dem Einzug der 1970er Jahre fing die Underground-Bewegung an, langsam sich zu verschleißen. Die Leute der Szene trieben auseinander, ein jeder ging seines eigenen Weges. Bei etlichen dürfte das auch der Tatsache verschuldet gewesen sein, daß man endlich erwachsen geworden war und die Schnauze voll hatte von dem ewigen Avantgarde-Herumgemache.
Im Jahre 1987 veranstaltete Mattijuhani Koponen im Alten Studentenhaus ein offizielles Begängnis des finnischen Underground. Auf der Einladung war zu lesen: "Das Hinscheiden des Königs des Underground? Ein Künstlerfest von Mattijuhani Koponen. Das Festtagszeugs beehren bekannterweise durch ihre Gegenwart ein Kriminal- und verstorbener Fürsorgepolizist sowie ein Gefängnisleiter nebst vielen Künstlerbekanntschaften von Koponen". Koponen selbst lag in einem Sarg, bis er von da herausstieg, und damit begann, finnisches Ringbrot [ein rundes Brot mit einem Loch in der Mitte] seinem Publikum zuzuwerfen. Es waren ungefähr gleich wenig Leute zur Stelle, den Underground zu Grabe zu tragen, als mit dabei waren, ihn aus der Taufe zu heben.
Einige Altmeister des Underground sind weiterhin im Zeichen der Kunst aktiv, wenn auch nicht mehr so richtig in den Untergrund abgetaucht. Von Mattijuhani Koponen ist eine Gedichtesammlung erschienen und Jarkko Laine hat sich seither als Redakteur des Künstlermagazins Parnasso und auch als ein Landtagskandidat hervorgetan. M.A. Numminen sang im Alten Studentenhaus auf der Jahresfeier der Soziologiestudenten des Jahres 1999 den Leitfaden zu sexuellem Verhalten noch einmal vor, und es war weit und breit von keiner staatlichen Autorität weder etwas zu sehen, noch zu hören gewesen.
°Das Jumalan teatteri hatte in einem Anschlag auf das etablierte Theaterwesen am Tag des Theaters am 17. Januar 1987 in Oulu das Festpublikum mit Kot und Urin und mit faulen Hühnereiern und Judenfürzen beworfen, um die angerichtete, so drastisch verschärft überzogene "Theaterscheiße" hernach mit Feuerlöscherschaum abzulöschen, wurde dafür aber gerichtlich belangt und zu Freiheitsstrafen auf Bewährung sowie zu saftigen Geldstrafen verurteilt und befristet von ihrer jeweiligen Uni-Fakultät suspendiert. Zwei der Teilnehmer sind heute bekannte Schauspieler, die anderen weiterhin Künstler.
Hier sind einige Bilder dazu zu sehen »
Die ausklingenden 1960er Jahre waren in etlicher Hinsicht eine Zeit des Umbruchs gewesen. Gleichzeitig, als patriotisch gesinnte Hochschulstudenten Fackelumzüge veranstalteten, zeigten in Kreisen junger Intellektueller radikale kulturelle Tendenzen allerlei tückische Gesichter. Radikale jugendliche Kulturschaffende fanden sich aus den Reihen von auf Tourneen gehenden Musikern, Theatermachern und Literaten, sowie auch aus denen avantgardistischer Künstler zusammen. Die jungen Intelligenzler waren an Waffenabrüstung, an Problemen, die mit dem Rassismus zusammenhingen, an Sexualpolitik, und an der Erweiterung ihres Bewußtseinshorizonts interessiert - ganz zu schweigen davon, daß sie drauf und dran waren, eine neuartige, revolutionäre Kultur ins Leben zu rufen.
Radikalisierte Studenten entdeckten eine Seelenverwandtschaft mit dem kulturumwälzenden Jungvolk und trugen ihrerseits zum Aufkommen von neuartigen musikalischen Strömungen in Finnland bei. In der Musikszene passierte eine kleine Revolution, als die Leute merkten, daß das Aufnehmen einer Schallplatte eigentlich gar nicht so teuer kommt. In den Jahren 1967-68 wurde denn auch in Eigenregie eine gewaltige Menge davon in Umlauf gebracht. Durch das Zusammenwirken von Hippiebewegung, experimenteller Musik, der avantgardistischen Kunst und der kulturell radikalen, das Établissement in Frage stellenden Intellektuellen kam Mitte der 1960er Jahre eine Underground-Bewegung auf, die ihre Wesensart aus ebenjenen genannten Elementen bezog. Oft wird die Underground-Bewegung der Punk-Bewegung zugeschlagen, viel eher könnte man aber sagen, daß der finnische Punk aus dem Underground hervorging, oder aus dessen Aschenglut.
Als einen Startschuß für das Entstehen des Underground darf man gewissermaßen die Kulturtage von Jyväskylä des Jahres 1966 rechnen, auf denen der Student Mauri Antero Numminen einen kleinen Skandal auslöste, indem er dem Festpublikum einen Leitfaden zu sexuellem Verhalten vorsang. Numminen wurde samt seiner Kapelle des Festgeländes verwiesen, und es war ihm und seinen Mannen keineswegs gelungen, die Polizei davon zu überzeugen, daß sie völlig innerhalb den Schranken des Gesetzes gehandelt hätten, da sie doch nur Abschnitte aus einem Leitfaden vortrugen, den "selbst ein jedes Kind im Buchhandel erwerben und lesen kann". Die Staatsgewalt war vielmehr der Anschauung, daß Numminen ernsthaft gegen die zwischengeschlechtliche Disziplin und gegen die Regeln eines gesitteten Verhaltens verstoßen hätte. Seither sind die Kulturtage von 1966 vornehmlich unter der Bezeichnung (Sexual-)Sommer von Jyväskylä bekannt.
Die Underground-Bewegung war von ihrer Personenzahl her nicht weltbewegend gewesen. In den Underground-Zirkeln von Helsinki turnten nicht einmal 50 Leute herum. Für deren eigentliches Entstehungsjahr mag man das Jahr 1967 halten. Im selben Jahr war Jimi Hendrix im Haus der Kultur aufgetreten, und die im Geiste von Woodstock fortlebende Hippie-Idee hatte in Finnland eingeschlagen. Am Allerheiligentag 1967 trat die legendäre Underground-Band The Sperm - ursprünglich unter dem Namen "die Heiligen Männer" gegründet - zum ersten Mal als solche ins Erscheinungsbild. In der Besetzung waren anfangs der Kunstkritiker J.O. Mollander, der Schmalfilmregisseur Peter Widén und der Musiker Pekka (Acu) Airaksinen dabei. Späterhin, im Sommer 1967, war, als Leitfigur von Sperm, der wahre Agitator der Gruppe gefunden worden, der Performance Champion Mattijuhani Koponen.
Sperm sog in sich Einflüße auf sowohl vom Jazz der Avantgarde als auch von der experimentellen Gegenwartsmusik, wie von Hendrix und The WHO. Beim Erzeugen ihrer Musik wurde reiner Krawall als Element eingesetzt, im Zusammenspiel mit verrissenen E-Gitarren, einer heidnischen Urwaldtrommel, einem Saxophon und wuchtigen Piano-Solo-Einlagen. Als Instrumente dienten auch Autoschlüssel und ein alter Plattenspieler, auf dem man zur Würzung der restlichen Musik Pornoplatten abspielen ließ. Neurotisches Gelärme und wild avantgardistische Aktionskunst-Bühnenstücke ließen die Vorstellungen von Sperm zu facettenreichen, interdisziplinären Kunst-Events werden, bei denen es passieren konnte, daß von der Bühne aus schon mal lebende Hühner und Essenswaren ins Publikum flogen. Zuweilen lagen die Mitglieder der Band in Särgen auf der Bühne herum. Sperm war um ein paar Jahrzehnte der verwegenen Theatergruppe °Jumalan teatteri [Theater Gottes] um Jouko Turkka voraus.
Sperm brachte eine Mini-LP und im Eigenverlag eine Langspielplatte heraus. Der kommerzielle Erfolg beider fiel jedoch schwach aus. Die Gruppe veranstaltete im Februar 1968 im Haus der Kultur ein dreitägiges Sperm-Festival, für welches ganze 42 Eintrittskarten verkauft wurden. Die Bandmitglieder kümmerten sich allerdings nicht weiters ums Publikum, sondern zogen, bekifft, wie sie waren, zum eigenen Vergnügen ihre Licht- und Klangperformance-Kunst durch.
Der revolutionäre Charakter der Umtriebe der Gruftigruppe The Sperm steht auf dem Felde der Musik, der Politik, des Theaters, der Religion, sowie auf dem aller schönen Künste unübersehbar im Raum. Sperm ist ein Phänomen, das mit den Nachwehen eines Scheißintellektuellismus in die Welt gesetzt wurde. Hier ein paar Worte zum Scheißintellektuellismus: "Man könnte diesen auch als Radikalismus mit kurzgeschorenen Haaren oder als politisch korrekten Radikalismus bezeichnen. (...) Da kam dann die Gruftiband Sperm Ende der '60er daher. Ihnen ging es bei allem um Erfahrungen über den eigenen Körper. Für sie waren Schall, Licht und Berührung von großer Bedeutung. Bereits während ihren ersten Vorstellungen schickten sie eurer Verbissenheit und eurer faschistischen Plackerei eine bittere Pille der Botschaft entgegen, ihr hattet es aber selbst dann noch nicht begriffen, als es schon zu spät war." - Ein Zitat aus den Sperm-Veröffentlichungen.
Koponen sagt im Buch "Die erste Welle": "Ich hab' mich seinerzeit aus Lappeenranta davongemacht. Ich wurde während des Krieges geboren, -41, in einem Arbeiterhaus, in keiner politisch motivierten, aber in einer eindeutig sozialdemokratisch eingestellten Familie der Arbeiterklasse. In meiner Jugend kam es jedoch so, daß ich in Lappeenranta der Nationalen Jugend der Sammlungspartei [kokoomus] angehörte - hauptsächlich deshalb, da dort alle Kumpels waren. Dort konnte man Tischtennis spielen, mit den flotten Mädels herumschäkern, man durfte Spielfilme anschauen, wenn es auch sonst da nicht viel mehr zu sehen gab."
Mattijuhani Koponen darf widerspruchslos als der finnische König des Underground betrachtet werden. Wer wäre sonst schon in seinen radikalen Einfällen so weit gegangen wie Koponen. Bevor er im Hafen von Sperm anlegte, hatte Koponen den Kirchenchor, die Armee, das Gefängnis abgeklappert, hatte im Studententheater von Turku, von Helsinki und von Jyväskylä geschauspielert und hatte Erfahrung im Arbeitsleben gesammelt, indem er in Deutschland Zeitarbeit verrichtete und in Paris sich als "Aupair-Mädchen eines Schwulenpaares" verdingte.
Im Jahre 1968 veranstaltete das Kulturzentrum der Studentenschaft der Universität von Helsinki zu Ehren des Entstehungstages der Erklärung der Menschenrechte eine Festlichkeit. Mattijuhani Koponen war zu dem Fest geladen worden, um ein Gedicht vorzutragen. Das Gedicht krönte eine Striptease-Aufführung Koponens, was ihm natürlich weithin schwer übel genommen wurde.
Ein weitaus größerer Skandal kam auf, als Koponen am 2.12.1968 in einem "klassischen Konzert mit avantgardistischer Musik" auf dem Flügel des Alten Studentenhauses seine legendäre Köpulations-Performance-Nummer hinlegte. Sinn und Zweck der Aufführung war es, ein "Herbeimassieren des Friedens" und die Geburt eines neuen Zeitalters zu symbolisieren. Koponen hat steif und fest behauptet, daß ein wirklicher Akt sich niemals zugetragen hätte, da er fürchterlich angespannt, und es auf der Bühne viel zu kalt gewesen sei, um aus der Sache etwas richtiges werden zu lassen. Obendrein wäre seine Partnerin, deren Name Koponen bis auf den heutigen Tag nicht der Öffentlichkeit preisgegeben hat, wegen einer am gleichen Tag eingesetzt habenden starken Menstruation an strategischen Plätzen zugeklebt gewesen.
Ein Jahr später, am Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte von 1969, wurde Koponen von Polizisten festgenommen, der daraufhin, nach einer Zwischenstation im Jugendgefängnis von Kerava, im Bezirksgefängnis zu Turku einsaß. Sein Urteil: Zwei Monate für den Gedichtsvortrag mit Striptease, fünf Monate für den Flügel-Akt minus einem Monat dafür, daß er Ersttäter war.
Finnlands Underground war aber sicher mehr als nur The Sperm und Mattijuhani Koponen. Die Underground-Zirkel von Helsinki brachten das radikale Blatt Ultra heraus, das dem System im ganzen eine Abfuhr erteilte, und das auch ins Augenmerk des Ministeriums fürs Rechtswesen geriet, als es die Jurisprudenz, den Präsidenten, die Polizei und im allgemeinen die Staatsgewalt herabsetzte. Eine beachtliche Underground-Band war auch das elektrische Quartett von M.A. Numminen (Sähkökvartetti), das eine aus Komponenten, die aus dem Alteisenhandel stammten, zusammengeschusterte Vorrichtung war, die mit vier Instrumenten verbunden wurde. Numminen, Markku Into, Jarkko Laine und Kollegen betrieben eine Zeitlang sogar auf Yle, Finnlands nationaler Radio- und Fernsehanstalt, ein Radioprogramm unter dem Namen Going Underground [Maanalaista menoa].
Der Underground von Helsinki und derjenige von Turku wichen in beträchtlichem Maße voneinander ab. Die Kapelle Finnlands Winterkrieg 1939-1940 bestand von ihrer Besetzung her hauptsächlich aus Leuten aus Turku, und machte Musik mit einer leicht unterschiedlichen Einstellung im Vergleich zu The Sperm. Finnlands Winterkrieg erging sich ebenso in multidimensionaler Aktionskunst, allerdings mit einer bodenständigeren und humorvolleren Annäherungsweise. Zu einer gewissen Galionsfigur für Finnlands Winterkrieg stieg der bereits verstorbene Rauli "Badding" Somerjoki aus Somero auf. Sperm ließen sich vom "System" am Arsch lecken, Finnlands Winterkrieg trat hingegen gerne auf Veranstaltungen politischer Organisationen, wie auch am Tag der Offenen Tür von Verlagshäusern auf. Neben Badding machten sich bei Finnlands Winterkrieg u.a. M.A. Numminen, Markku Into und Jarkko Laine einen Namen. Die Musik von Winterkrieg war von ihrem Stil her bluesrockinspiriert und traf sogar den Nerv der breiteren Massen des Volkes. Die Texte der Lieder waren leicht nachvollziehbar und dürfen als ein bemerkenswerter Wegbahner für das Entstehen der finnischen Rocklyrik angesehen werden.
Die Underground-Schule von Helsinki unterschied sich in ihrer Rauschmittelpolitik von jener aus Turku insofern, als in der Hauptstadt man sich bekiffte, in Turku hingegen man sich mit Alkohol zudröhnte. Die Kollegen aus Helsinki hielten die Gruftis aus Turku zwar für ordentliche Typen, wenn auch für weniger ernst zu nehmende Erbauer einer Untergrundkultur der leichteren Sorte.
"Ich habe in den Geschichten der Jungs aus Turku mehr ästhetische Spielerei als echten Underground gesehen, zu welchem es meines Erachtens immer gehört hat, daß man bereit ist, physisch sein Allerletztes herzugeben." - Mattijuhani Koponen im Buch "die erste Welle".
Mit dem Einzug der 1970er Jahre fing die Underground-Bewegung an, langsam sich zu verschleißen. Die Leute der Szene trieben auseinander, ein jeder ging seines eigenen Weges. Bei etlichen dürfte das auch der Tatsache verschuldet gewesen sein, daß man endlich erwachsen geworden war und die Schnauze voll hatte von dem ewigen Avantgarde-Herumgemache.
Im Jahre 1987 veranstaltete Mattijuhani Koponen im Alten Studentenhaus ein offizielles Begängnis des finnischen Underground. Auf der Einladung war zu lesen: "Das Hinscheiden des Königs des Underground? Ein Künstlerfest von Mattijuhani Koponen. Das Festtagszeugs beehren bekannterweise durch ihre Gegenwart ein Kriminal- und verstorbener Fürsorgepolizist sowie ein Gefängnisleiter nebst vielen Künstlerbekanntschaften von Koponen". Koponen selbst lag in einem Sarg, bis er von da herausstieg, und damit begann, finnisches Ringbrot [ein rundes Brot mit einem Loch in der Mitte] seinem Publikum zuzuwerfen. Es waren ungefähr gleich wenig Leute zur Stelle, den Underground zu Grabe zu tragen, als mit dabei waren, ihn aus der Taufe zu heben.
Einige Altmeister des Underground sind weiterhin im Zeichen der Kunst aktiv, wenn auch nicht mehr so richtig in den Untergrund abgetaucht. Von Mattijuhani Koponen ist eine Gedichtesammlung erschienen und Jarkko Laine hat sich seither als Redakteur des Künstlermagazins Parnasso und auch als ein Landtagskandidat hervorgetan. M.A. Numminen sang im Alten Studentenhaus auf der Jahresfeier der Soziologiestudenten des Jahres 1999 den Leitfaden zu sexuellem Verhalten noch einmal vor, und es war weit und breit von keiner staatlichen Autorität weder etwas zu sehen, noch zu hören gewesen.
°Das Jumalan teatteri hatte in einem Anschlag auf das etablierte Theaterwesen am Tag des Theaters am 17. Januar 1987 in Oulu das Festpublikum mit Kot und Urin und mit faulen Hühnereiern und Judenfürzen beworfen, um die angerichtete, so drastisch verschärft überzogene "Theaterscheiße" hernach mit Feuerlöscherschaum abzulöschen, wurde dafür aber gerichtlich belangt und zu Freiheitsstrafen auf Bewährung sowie zu saftigen Geldstrafen verurteilt und befristet von ihrer jeweiligen Uni-Fakultät suspendiert. Zwei der Teilnehmer sind heute bekannte Schauspieler, die anderen weiterhin Künstler.
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libidopter - 12. Okt, 12:39