Wohin des Weges, Menschheit?
Zwischendurch kann es ganz lustig sein, sich mal vorzustellen, wie die Welt wohl ausschaute, wenn man nach vielen, vielen Jahren aus einem langen Schlaf erwachte. Ein Engländer mit Namen Graham, der lange Zeit an fortgesetzter Schlaflosigkeit gelitten hatte, darf denn auch einmal richtig anständig durchschlafen. Und erwacht nach einer gleich zwei Jahrhunderte andauernden Trance in eine Welt hinein, die nicht mehr das ist, was sie vormals war.
Die in der Zwischenzeit sich von Grund auf erneuerte Gesellschaft kommt durch eine aufgrund ihrer Kälte erschaudern machende Dystopie einer Verzerrung der Realität gleich, in eine welche zumindest ich selber nicht erwachen wollte.
Die Bildung der Menschen wird da unter Zuhilfenahme von Hypnose vorgenommen, für über ihrer Arbeit Erschöpfte ist da die Euthanasie im Gebrauch.
Das im Jahre 1899 erschienene Buch 'Wenn der Schlafende erwacht' von H.G. Wells, in welchem jener Graham und eine derartig veränderte Welt vorgestellt werden, wird als der erste antiutopistische Roman angesehen, aus dem späterhin sowohl George Orwell als auch Aldous Huxley geschöpft hatten. Es ist dies ein wichtiges Buch auch in unseren Tagen der Unsicherheit.
Zu Anfang des Buchs kommen die Ereignisse im England des victorianischen Zeitalters in Gang. Während seines Spaziergangs an der schönen Strandeinbuchtung bei Pentargen trifft ein Herr Isbister auf einen unter einem Felsenvorsprung sitzenden traurig dreinblickenden Mann, der über ständige Schlaflosigkeit klagt und sich mit Selbstmordgedanken trägt. Nachdem er den Mann für eine Weile zu sich nach Hause eingeladen hat, schläft jener dann auch prompt im Hause Isbisters ein, mit Folgen, die wir erst, nachdem zwei Jahrhunderte zwischendrin abgelaufen sind, sich entfalten sehen.
Die ersten zwei Kapitel des Buchs dienen dem Prolog, im Verlaufe von welchem Wells die Ereignisse aus der 'Gegenwart' des 19. Jahrhunderts herausholt und ins Jahr 2100 verlegt. Im dritten Kapitel wacht dann Graham, der Schlafende, endlich auf, und der Sog der Erzählung trägt den Lesenden mit sich fort.
Wie dürfte man sich wohl fühlen, wenn man zwei Jahrhunderte lang abseits von allem, ohne Bewußtsein war? Außer, daß die die Person umgebende Welt eine völlig andersartige ist, muß auch die Gefühlswelt und selbst das physische Sein des aus seinem Stupor erwachenden Menschen etwas völlig Chaotisches sein. Als ein Außenstehender brennt der Leser natürlich darauf, den Fortgang der Geschehnisse zu erfahren, und genau diese Phase porträtiert Graham auch auf eine hinreißende, geradezu Freudsche Art und Weise. "Wie betörend kompliziert es doch sein kann! Diese als so bekannt erscheinende Einheit - das Ich!"
Während der Zeit, da Graham träumte, hat die Gesellschaft sich total gewandelt. Die Macht liegt mittlerweile in den Händen eines aus zwölf Männern bestehenden Rats, der die Geldreserven der Welt unter Kontrolle hat. Aus den Reihen des einfachen Volks ist aber bereits die Unzufriedenheit ins Erscheinungsbild getreten. Man munkelt sogar vom Möglichwerden einer Revolution. Vom Standpunkt der Machthaber aus trifft Grahams plötzliches Erwachen in eine schlechte Zeit. Aus dem Langschläfer wird mit der Zeit ein gewisser Mythos geformt, ein Verbindungsglied zur Vergangenheit, und gleichzeitig ein Symbol von bestimmter Art, durch welches der Staatsrat es schaffen will, seine eigene Herrschaft zu legitimieren.
Der Siebenschläfer hat für die Menschen seiner Zeit ein wenig die Bedeutung einer Reliquie, gleich der des einbalsamierten Leichnams Lenins für die Machthaber der Räterepublik der einstig sowjetisch-russischen Konföderation. Nur betrachten hat man diesen dürfen, berühren nicht. Sicher wäre auch aus dem Erwachen Lenins eine Katastrophe erwachsen.
Als die Nachricht über das Erwachen des Langschläfers sich ausbreitet, löst sie einen Machtumsturz aus. Der Rat beschließt, Graham zu töten, zumindest behaupten dies die, die ihn entführen, ihn mit sich nehmen, hinein in das Getùmmel der Straßen von London, wo ein völliges Durcheinander herrscht.
Inmitten des Chaos verliert sich Graham und irrt umher auf dunklen Straßen, bis er sich schließlich im Amt für die Windmotoren wiederfindet, wo ihn die wichtigste Figur im Zentrum der Revolution, Ostrog, unter seine Fittiche nimmt.
Während dieser Phase ist Graham bereits längst klargeworden, daß der ins Kippen geratene Rat seinen Machtanspruch auf sein während seines zweihundertjährigen Schlafs mächtig angewachsenes Vermächtnis gegründet hat. Er, Graham, ist also der wahre Herrscher über die Welt!
Aber für Wells, einen Sozialisten und Pazifisten, war Macht nie etwas klar Eindeutiges gewesen.
Schon kurz davor hat Ostrogs Bruder gegenüber Graham an einer Stelle festgestellt: "Er (Ostrog) ist einer, der für uns plant. Einer, der den Entwurf für den Umsturz ausarbeitet. Unser Führer - in Ihrem Namen.'
Graham ist nicht damit zufrieden, nur eine Marionettenfigur spielen zu dürfen, er will wissen, was tatsächlich in dieser Welt los ist. Verkleidet begibt er sich auf die Straßen Londons. Ein gebürtiger Japaner, Asano, zeigt Graham dabei den Weg. Er führt ihn von Ort zu Ort, stellt ihm die neue Welt vor, wie sie ist, wie Vergil Dante die Hölle vorstellte. Je länger Wells das London der Zukunft beschreibt, desto gothisch-unheimlicher zeigt sich die Landschaft in dieser Metropole mit seinen dreißig Millionen Bewohnern. Wells nimmt viel Zeit in Anspruch, um sehr detailliert die unter einer großen Glocke funktionierende Stadt zu beschreiben, in der das arbeitsmüde Volk, in blaue Anzüge gekleidet, auf sich vorwärtsbewegenden Bürgersteigen umhergehen. Die Reichen und Privilegierten gehen ihren Vergnügungen nach, während gleichzeitig die für die Arbeiterklasse zuständigen Polizisten nach dem rechten schauen. Über allem drehen sich unablässig imposante Windmotoren, um die Energie herzuwirbeln für diesen Ameisenhaufen von Menschen.
Dieses London der Zukunft kommt einem jedoch irgendwie bekannt vor. Ähnliche Szenarios kommen einem in vielen wichtigen Werken und deren Verfilmungen der Scifi-Literatur entgegen. Der Film Bladerunner von Ridley Scott schuldet dem Werk von Wells zumindest dessen dunkel-düstere Milieubeschreibungen, aber auch manch anderer hat daraus Entlehnungen vorgenommen.
Graham wird sich dessen bewußt, daß die eben sich vollzogene Revolution nichts verändert hat, nur der Name des Diktators ist ein anderer geworden. Zuletzt geht ihm auf, was die Menschheit von ihrem Herrcher eigentlich erwartete: nichts weniger als die Aufreibung des auf die Ausbeutung der Menschen basierenden Unterdrückungsmachtsystems.
Würde er aber dafür tauglich sein? Hätte er das Zeug zu einem neuen Messias?
Wenngleich Wells Stärke nicht gerade im Hervorzaubern von tiefschürfenden Persönlichkeitsbildern ist, gelingt es ihm gekonnt, zu veranschaulichen, welch eine entscheidende Bedeutung in der in die innere Krise abgleitenden Gesellschaft dem Individuum zufällt, und die finale Schlacht mit Mitteln zu beschreiben, wie man sie nur von den herausragendsten Artvertretern der Gattung Science Fiction her kennt. 'Wenn der Schlafende erwacht' gehört als Klassiker an die Seite von 'Zeitmaschine' (1895) und dem 'Krieg der Welten' gestellt.
H.G. Wells ist von manchen Kreisen her das Mäntelchen eines Shakespeare der Scifi-Literatur angepaßt worden. Warum auch nicht?! Selbstverständlich paßt er darunter, wiewohl ihm meines Erachtens dabei zumindest Ray Bradbury und Philip K. Dick Gesellschaft leisten dürften.
Als Zukunftsvisionär ist Wells ganz eigener Klasse. Dort, wo Jules Vernes Fähigkeiten als Seher zu ihren Rechten kommen, indem er technische Innovationen gestaltkünstlerisch skizziert, versteht sich Wells darauf, tiefer zu gehen und seinen Lesern eine glaubwürdige Analyse zu diesen Gesellschaften zu liefern, in denen derartige Gerätschaften mit dazugehören, jedoch nur in der Nebenrolle vorkommen. In der Hauptrolle in Wells' Büchern steht immer die Menschengemeinschaft als solche.
Die in der Zwischenzeit sich von Grund auf erneuerte Gesellschaft kommt durch eine aufgrund ihrer Kälte erschaudern machende Dystopie einer Verzerrung der Realität gleich, in eine welche zumindest ich selber nicht erwachen wollte.
Die Bildung der Menschen wird da unter Zuhilfenahme von Hypnose vorgenommen, für über ihrer Arbeit Erschöpfte ist da die Euthanasie im Gebrauch.
Das im Jahre 1899 erschienene Buch 'Wenn der Schlafende erwacht' von H.G. Wells, in welchem jener Graham und eine derartig veränderte Welt vorgestellt werden, wird als der erste antiutopistische Roman angesehen, aus dem späterhin sowohl George Orwell als auch Aldous Huxley geschöpft hatten. Es ist dies ein wichtiges Buch auch in unseren Tagen der Unsicherheit.
Zu Anfang des Buchs kommen die Ereignisse im England des victorianischen Zeitalters in Gang. Während seines Spaziergangs an der schönen Strandeinbuchtung bei Pentargen trifft ein Herr Isbister auf einen unter einem Felsenvorsprung sitzenden traurig dreinblickenden Mann, der über ständige Schlaflosigkeit klagt und sich mit Selbstmordgedanken trägt. Nachdem er den Mann für eine Weile zu sich nach Hause eingeladen hat, schläft jener dann auch prompt im Hause Isbisters ein, mit Folgen, die wir erst, nachdem zwei Jahrhunderte zwischendrin abgelaufen sind, sich entfalten sehen.
Die ersten zwei Kapitel des Buchs dienen dem Prolog, im Verlaufe von welchem Wells die Ereignisse aus der 'Gegenwart' des 19. Jahrhunderts herausholt und ins Jahr 2100 verlegt. Im dritten Kapitel wacht dann Graham, der Schlafende, endlich auf, und der Sog der Erzählung trägt den Lesenden mit sich fort.
Wie dürfte man sich wohl fühlen, wenn man zwei Jahrhunderte lang abseits von allem, ohne Bewußtsein war? Außer, daß die die Person umgebende Welt eine völlig andersartige ist, muß auch die Gefühlswelt und selbst das physische Sein des aus seinem Stupor erwachenden Menschen etwas völlig Chaotisches sein. Als ein Außenstehender brennt der Leser natürlich darauf, den Fortgang der Geschehnisse zu erfahren, und genau diese Phase porträtiert Graham auch auf eine hinreißende, geradezu Freudsche Art und Weise. "Wie betörend kompliziert es doch sein kann! Diese als so bekannt erscheinende Einheit - das Ich!"
Während der Zeit, da Graham träumte, hat die Gesellschaft sich total gewandelt. Die Macht liegt mittlerweile in den Händen eines aus zwölf Männern bestehenden Rats, der die Geldreserven der Welt unter Kontrolle hat. Aus den Reihen des einfachen Volks ist aber bereits die Unzufriedenheit ins Erscheinungsbild getreten. Man munkelt sogar vom Möglichwerden einer Revolution. Vom Standpunkt der Machthaber aus trifft Grahams plötzliches Erwachen in eine schlechte Zeit. Aus dem Langschläfer wird mit der Zeit ein gewisser Mythos geformt, ein Verbindungsglied zur Vergangenheit, und gleichzeitig ein Symbol von bestimmter Art, durch welches der Staatsrat es schaffen will, seine eigene Herrschaft zu legitimieren.
Der Siebenschläfer hat für die Menschen seiner Zeit ein wenig die Bedeutung einer Reliquie, gleich der des einbalsamierten Leichnams Lenins für die Machthaber der Räterepublik der einstig sowjetisch-russischen Konföderation. Nur betrachten hat man diesen dürfen, berühren nicht. Sicher wäre auch aus dem Erwachen Lenins eine Katastrophe erwachsen.
Als die Nachricht über das Erwachen des Langschläfers sich ausbreitet, löst sie einen Machtumsturz aus. Der Rat beschließt, Graham zu töten, zumindest behaupten dies die, die ihn entführen, ihn mit sich nehmen, hinein in das Getùmmel der Straßen von London, wo ein völliges Durcheinander herrscht.
Inmitten des Chaos verliert sich Graham und irrt umher auf dunklen Straßen, bis er sich schließlich im Amt für die Windmotoren wiederfindet, wo ihn die wichtigste Figur im Zentrum der Revolution, Ostrog, unter seine Fittiche nimmt.
Während dieser Phase ist Graham bereits längst klargeworden, daß der ins Kippen geratene Rat seinen Machtanspruch auf sein während seines zweihundertjährigen Schlafs mächtig angewachsenes Vermächtnis gegründet hat. Er, Graham, ist also der wahre Herrscher über die Welt!
Aber für Wells, einen Sozialisten und Pazifisten, war Macht nie etwas klar Eindeutiges gewesen.
Schon kurz davor hat Ostrogs Bruder gegenüber Graham an einer Stelle festgestellt: "Er (Ostrog) ist einer, der für uns plant. Einer, der den Entwurf für den Umsturz ausarbeitet. Unser Führer - in Ihrem Namen.'
Graham ist nicht damit zufrieden, nur eine Marionettenfigur spielen zu dürfen, er will wissen, was tatsächlich in dieser Welt los ist. Verkleidet begibt er sich auf die Straßen Londons. Ein gebürtiger Japaner, Asano, zeigt Graham dabei den Weg. Er führt ihn von Ort zu Ort, stellt ihm die neue Welt vor, wie sie ist, wie Vergil Dante die Hölle vorstellte. Je länger Wells das London der Zukunft beschreibt, desto gothisch-unheimlicher zeigt sich die Landschaft in dieser Metropole mit seinen dreißig Millionen Bewohnern. Wells nimmt viel Zeit in Anspruch, um sehr detailliert die unter einer großen Glocke funktionierende Stadt zu beschreiben, in der das arbeitsmüde Volk, in blaue Anzüge gekleidet, auf sich vorwärtsbewegenden Bürgersteigen umhergehen. Die Reichen und Privilegierten gehen ihren Vergnügungen nach, während gleichzeitig die für die Arbeiterklasse zuständigen Polizisten nach dem rechten schauen. Über allem drehen sich unablässig imposante Windmotoren, um die Energie herzuwirbeln für diesen Ameisenhaufen von Menschen.
Dieses London der Zukunft kommt einem jedoch irgendwie bekannt vor. Ähnliche Szenarios kommen einem in vielen wichtigen Werken und deren Verfilmungen der Scifi-Literatur entgegen. Der Film Bladerunner von Ridley Scott schuldet dem Werk von Wells zumindest dessen dunkel-düstere Milieubeschreibungen, aber auch manch anderer hat daraus Entlehnungen vorgenommen.
Graham wird sich dessen bewußt, daß die eben sich vollzogene Revolution nichts verändert hat, nur der Name des Diktators ist ein anderer geworden. Zuletzt geht ihm auf, was die Menschheit von ihrem Herrcher eigentlich erwartete: nichts weniger als die Aufreibung des auf die Ausbeutung der Menschen basierenden Unterdrückungsmachtsystems.
Würde er aber dafür tauglich sein? Hätte er das Zeug zu einem neuen Messias?
Wenngleich Wells Stärke nicht gerade im Hervorzaubern von tiefschürfenden Persönlichkeitsbildern ist, gelingt es ihm gekonnt, zu veranschaulichen, welch eine entscheidende Bedeutung in der in die innere Krise abgleitenden Gesellschaft dem Individuum zufällt, und die finale Schlacht mit Mitteln zu beschreiben, wie man sie nur von den herausragendsten Artvertretern der Gattung Science Fiction her kennt. 'Wenn der Schlafende erwacht' gehört als Klassiker an die Seite von 'Zeitmaschine' (1895) und dem 'Krieg der Welten' gestellt.
H.G. Wells ist von manchen Kreisen her das Mäntelchen eines Shakespeare der Scifi-Literatur angepaßt worden. Warum auch nicht?! Selbstverständlich paßt er darunter, wiewohl ihm meines Erachtens dabei zumindest Ray Bradbury und Philip K. Dick Gesellschaft leisten dürften.
Als Zukunftsvisionär ist Wells ganz eigener Klasse. Dort, wo Jules Vernes Fähigkeiten als Seher zu ihren Rechten kommen, indem er technische Innovationen gestaltkünstlerisch skizziert, versteht sich Wells darauf, tiefer zu gehen und seinen Lesern eine glaubwürdige Analyse zu diesen Gesellschaften zu liefern, in denen derartige Gerätschaften mit dazugehören, jedoch nur in der Nebenrolle vorkommen. In der Hauptrolle in Wells' Büchern steht immer die Menschengemeinschaft als solche.
libidopter - 15. Jun, 13:24