Was ein einzelner Mensch tun kann, um die Welt zu verändern
Die zarte Revolution Indiens
(ein Beitrag der Serie Wortreihen des Ersten Finnischen Rundfunks YLE von Tapio Tamminen vom 7.3.2007, übersetzt aus dem Finnischen)
Es wurde zu Ende des letzten Jahres in Indien ein Buch von Ela R. Bhatt mit dem Titel 'Wir sind arm, aber wir sind so viele (Die Geschichte von selbst-angestellten Frauen in Indien)' veröffentlicht. Dieses erzählt von SEWA, dem Berufsverband von selbstständigen Frauen, welcher in stattlichen drei Jahrzehnten zu einem beträchtlichen Einfluß-Faktor in Indien angewachsen ist.
Die Begründerin von SEWA Ela Bhatt hat in den letzten Jahren zahlreiche internationale Auszeichnungen für ihre Arbeit erhalten. Die Universität von Harvard und von Yale hat sie zum Ehrendoktor ernannt. Die als zarte Revolutionärin betitelte Bhatt wird als eine der bemerkenswertesten Figuren der Welt angesehen, die das Kleinunternehmertum vorangetrieben haben. Ihr Lebenswerk ist mit dem des im letzten Herbst mit dem Friedens-Nobel-Preis ausgezeichneten Mohammed Yunus verglichen worden.
Bhatt ist ein ermutigendes Beispiel davon, was ein einzelner Mensch tun kann, um die Welt zu verändern. Am Anfang waren es eine Handvoll anderer Frauen, die sich für ihre Idee von einer Frauenberufsvereinigung begeistern konnten. Mit den Jahren hat sich jedoch ein Netzwerk von 700'000 Menschen herausgebildet, welches gegenwärtig auch weltweit seinen Einfluß ausübt. Als wichtigste Zielgruppe von SEWA gelten die zu Hause arbeitenden Frauen, welche über die Hälfte von allen Lohnarbeit verrichtenden indischen Frauen stellen. Die erbrachten Arbeiten sind von verschiedener Natur, von herkömmlicher Handarbeit und Teppichflechten bis zum Zusammensetzen von Komponenten für Computer und Handy-Phones.
Aber wie fing alles an? Ela Bhatt erzählt folgendes von ihrer Entwicklung zum Nationalaktivisten im Zentrum der indischen Textilindustrie in Ahmedabad:
"Ich hatte gerade an der Uni abgeschlossen, im Jahre 1955, als mir die Stelle der jüngeren Rechtsanwältin im Textil-Arbeiter-Bund angeboten wurde. Dieser wurde dann zu meiner eigentlichen Uni. Meine ersten Wochen in dem von Männern beherrschten Arbeitsrecht waren nervenaufreibend. Selbst die geringsten Bemerkungen über meine Kleider oder über mein Kleinsein brachten mich aus meiner Fassung und ich fing zu stänkern an.
Ich bewunderte in fast allem Mahatma Gandhi, welcher den Textil-Arbeiter-Bund über drei Jahrzehnte davor gegründet hatte. Seine Ideen von einer einfachen Lebensart und von Gewaltlosigkeit sprachen meinen jungen Geist an.
Zu Ende der 1960er Jahre begann die Textilindustrie in Ahmedabad jedoch so langsam dahinzuwelken. Tausende von Beschäftigten wurden arbeitslos. Wenn ich in Familien zu Besuch war, fiel mir auf, daß ihr wirtschaftliches Auskommen auf die Arbeit der Frauen gestellt war. Während die Männer dafür kämpften, daß ihre Fabriken wieder aufmachten, müßten die Frauen den Lebensunterhalt für die Familie beschaffen gehen. Sie verkauften Obst und Gemüse auf der Straße, verrichteten auf dem Markt Arbeiten auf Bestellung oder suchten auf Wegen und Abfallplätzen nach Gegenständen, die wiederverwertet werden könnten. Damals sah ich es zum erstenmal, was es heißt, selbst sich zu beschäftigen auf einem nicht-offiziellen Markt - ausserhalb aller Arbeitsgesetze und Regelungen der Gesellschaft.
Als ich mir diese hart arbeitenden Frauen anschaute, erwachte in mir der starke Wunsch, etwas zu unternehmen. Der offizielle Arbeiterverband wollte ihnen nicht helfen. Als ich im Jahre 1969 von meiner Studienreise zu israelischen Kibbutzen zurückkehrte, wusste ich, was ich tun sollte: ich würde für Frauen, die in einer inoffiziellen Markttätigkeit beschäftigt sind, eine eigene Berufsgenossenschaft gründen. Der Grundgedanke war möglichst simpel. Der Verband entstand, indem alle ins gleiche Horn bliesen. Die Frauen mußten sich gegen niemanden stellen. Vereint hatte sie ihre eine Stimme - das reichte aus."
SEWA, bzw. der Verband selbständiger Arbeiterinnen, wurde im April 1972 gegründet. Ela Bhatt erzählt in ihrem Buch von tapferen Arbeitskumpanen von ihr, welche den Nerv hatten, geduldig an ihrer Seite zu kämpfen, zu Zeiten, als ihr eigener Glaube an die Sache zwischendurch schlappmachte.
Soopa Goba war eine ihrer frühesten Arbeitsgenossinnen. Goba war aus dem Nachbarstaat Maharashtra nach Ahmedabad gekommen, mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wie zahllose andere verbrachte Goba ihre Nächte auf dem Bürgersteig. Tagsüber trug sie auf ihrem Kopf vom Bahnhof zu den Handelsläden riesige Bündel von Kleider. Goba verdiente an einem Tag zehn, zwanzig Rupien, aber die Hälfte des Lohns gingen an den Mittelsmann, der die Reise von ihrem Heimatdorf in die Großstadt organisiert hatte.
"Soopa Goba und ihre Arbeitskolleginnen gaben mir eine erste Lektion darüber, auf wie vielerlei Arten schutzlose Arbeiterinnen ausgenützt und gedemütigt werden können. Für die Wirtschaft von Ahmedabad stellte die Arbeit von Frauen wie Goba eine Notwendigkeit des Überlebens dar. Trotzdem verschlossen die Behörden der Stadt ihre Augen vor der Ausbeutung der Arbeiterinnen. In Wirklichkeit hatten sie deren Existenz nicht einmal anerkannt."
Neben dem Organisatorischen mußte SEWA auch die wirtschaftliche Position der Frauen stärken, damit sie von der Bank für den Start eines kleinen Unternehmens ein Darlehen von mittlerer Höhe erhalten würden. Dieses hat Ela Bhatt von einer anderen langzeitigen Arbeitskollegin gelernt.
"Chindaben sammelte auf der Straße und bei ihren wohlhabenden Nachbarn alles mögliche ein: Plastiktüten, zerrissene Kleider und Metallschrott. In ihrer Wohnung in den Slums fertigte sie mit ihrem Mann und ihren Kindern neue Produkte daraus an, die sie sonntags auf dem Flohmarkt entlang des Flusses verkaufen ging.
Chindaben mußte einige der Sachen, die sie brauchte, von einem Händler kaufen, der auch als ihr Bankier fungierte. Auf die gleiche Weise arbeiteten viele von Chindabens Arbeitskolleginnen. Die Frauen bezahlten an die privaten Geldverleiher aber horrende Zinsen, die sich auf 10 - 20 % am Tag belaufen konnten.
Im Dezember 1973 fragte mich Chindaben: 'Ela, warum gründen wir nicht einfach unsere eigene Bank?' Ich antwortete ein wenig betroffen: 'Weil wir kein Geld haben. Um eine Bank zu gründen, braucht man einen riesigen Betrag an Kapital.' Chindaben versetzte mir: 'Gut, wir mögen arm sein, aber wir sind viele.'
Ich verstand, daß dort die Idee lag. Auch ein kleines Kapital pro Kopf dürfte ausreichen. Wir gingen die Sache an, indem wir von jedem Mitglied von SEWA zehn Rupien erhoben. In einem halben Jahr hatten wir 71'000 Rupien, bzw. 1'400 Euro beisammen. Das reichte aus.
Die Behörden weigerten sich jedoch, die Bank zu registrieren, da die Eigentümer der Bank arme Frauen waren, des Lesens und Schreibens unkundig. Es wurde mir versichert, daß die Bank sehr bald zum Fall käme, die armen Frauen würden mir die Darlehen nicht zurückbezahlen. Zum Schluß gaben sie nach und die Bank wurde im Mai 1974 gegründet.
Die Befürchtung der Behörden erwies sich als gegenstandslos. Die Kunden aus den Slums hatten eine bessere Zahlungsmoral beim Zurückzahlen der Darlehen als die Kunden der Handelsbanken aus der Mittelschicht. Allmählich war SEWA in der Lage, sein Aufgabenfeld neben der Tätigkeit als Bank auf die Versorgung von Kindern, berufliche Lehrgänge, die Krankenpflege und das Versicherungswesen auszuweiten.
Es wurde für die Organisation als wichtig herausgestellt, daß die Frauen gut daran täten, alles übrige Geld in der Bank anzulegen. Vielfach war die Einzahlung gerade mal fünf Rupien, also zehn Cent. Auch brachte die Schreibunfähigkeit ihre eigenen Probleme mit sich. Man mußte in der Bank als Gegenstück zu einem geschriebenen Text verschiedene Symbole und Farben verwenden, damit die Frauen sie mit bestimmten Wörtern in Verbindung bringen konnten.
In ein paar Jahren wuchs das Eigenkapital der Bank auf 1,2 Millionen Rupien an. An Gewinn auf das Eigenkapital kam in den ersten Jahren 9 Prozent zusammen. Dieser wurde auf die nahezu 7'000 Aktionäre der Bank aufgeteilt. Die Bank bewilligte nicht nur Darlehen, sondern leitete die Kunden auch bei deren Investitionen an, ob es sich nun um den Ankauf einer Nähmaschine oder eines Ziehwägelchens handelte.
Die Bank von SEWA war von Anfang an ein gewinnträchtiges Unternehmen gewesen, obwohl deren Kunden mittellose Frauen sind. Oder erklärt im Gegenteil vielleicht gerade dies den wirtschaftlichen Erfolg der Bank, wie Ela Bhatt bemerkt hat.
"Die eigenen Ersparnisse der Frauen ließen ihr Selbstbewußtsein ansteigen. Zu Hause in der Familie weichte die Haltung der Männer auf: man mußte die Ehefrauen nunmehr als kooperative Partner, und nicht mehr als wirtschaftliche Belastung betrachten.
Der Erfolg unserer Bank führte im Jahre 1975 zu einer internationalen Konferenz, auf der wir zusammen mit der Ghanaerin Esther Ocloo und der US-amerikanischen Bankmanagerin Michaela Walsh die Idee von einer Weltbank für Frauen ausarbeiteten. Diese wurde dann vier Jahre später auch gegründet. Heutzutage ist die Bank eine extensive und lebenskräftige Kreditanstalt."
Neben der Bank hatte SEWA aber auch hunderte anderer Genossenschaften auf die Beine gestellt, wie z.B. kleine Meiereien, Handarbeitszentren oder Genossenschaftsläden. Auf den Dörfern sind Gruppen von 15 - 20 Frauen entstanden, die mit Hilfe eines minimalen Grundkapitals ein kleines Unternehmen aufgebaut haben, das sich zum Beispiel auf die Herstellung und Vermarktung von verzierten Strickwaren konzentriert. Auf diese Weise waren die Produkte sogar zu beachteten Modevorstellungen gelangt.
In den 1980er und 1990er Jahren musste SEWA seine Tätigkeit auf Nothilfen konzentrieren. Der Zuwanderungsstrom aus den Dörfern nach Ahmedabad
ließ die Einwohnerzahl der Millionenstadt schnell anwachsen. Gesellschaftliche Spannungen entluden sich in Form von Unruhen zwischen Hindus und Muslims. Die Situation wurde noch durch ein Erdbeben im Jahr 2001 verschlimmert. All jene Ereignisse setzten die ärmsten Bevölkerungsteile der Stadt einer scharfen Prüfung aus. Von den 100'000 Mitgliedern von SEWA verloren über 40'000 ihr Heim im Zuge der bitteren Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslims.
Die Zentrale von SEWA befindet sich weiterhin in Ahmedabad, aber sie hat Schwesterorganisationen in anderen Bundesstaaten ins Leben gerufen. Gegenwärtig gibt es in Indien in verschiedenen Bundesstaaten 10 SEWA-Vereinigungen, die tätig sind. Männer aber sind natürlich in der Organisation nicht zugelassen.
"Von Zeit zu Zeit gab es auch Männer, die sich uns hätten anschließen wollen. Ich selbst wäre schon bereit dazu gewesen, sie zu akzeptieren, so daß aus uns eine noch stärkere Gruppe würde, die einen Einfluß im ganzen Lande ausübt. Aber die Mehrheit der Frauen hatte sich geweigert, Männer als Mitglieder aufzunehmen. Die Männer würden in ihrem Streben nach Macht nur Spannungen mit sich bringen. Ein weiterer Grund war der, daß sich die Frauen ihre Ersparnisse ausserhalb des Zugriffs ihrer Männer halten wollten. Ich bin auch nun zufrieden mit dem Entschluß der Frauen. Vom Standpunkt der Organisation her war dies letztlich doch die beste Entscheidung."
Seit Beginn des letzten Jahrzehnts haben den Tätigkeitsbereich von SEWA nicht nur die Zunahme von religiös-politischen Unruhen, sondern auch die Globalisation einer Veränderung ausgesetzt.
"Der Charakter der Arbeit ist laufend im Wandel begriffen. Wirtschaftswissenschaftler nahmen lange Zeit an, daß sämtliche Arbeit in den Entwicklungsländern allmählich in den Bereich der offiziellen Wirtschaft überginge, nach Art von den industrialisierten Ländern. Im Zuge der Globalisation ist es aber anders gekommen, ganz im Gegenteil: Arbeitsanheuerung, Gelegenheitsarbeiten und verschiedenerlei Stückelarbeiten haben sich nun auch in der sogenannten offiziellen Wirtschaft ausgebreitet. Dies passiert nicht nur in Ahmedabad, sondern überall.
Wenn die Unternehmen sich verglobalisieren, muß das Sich-Organisieren der Arbeitnehmer auch die Grenzen eines Staates überschreiten. Insbesondere betrifft dies den inoffiziellen Markt: es reicht nicht mehr aus, daß SEWA in Indien tätig ist, sondern es muß seine Kräfte mit vergleichbaren Organisationen anderer Länder vereinen. Schwesterorganisationen von SEWA sind in Südafrika, der Türkei und in Yemen gegründet worden. Auch waren wir aktiv mit dabei, internationale Netzwerke für Selbständige,
wie z.B. HomeNet, zu schaffen. Dieses wurde zum Schluß als Ergebnis eines langen Kampfes in der Internationalen Arbeitsorganisation ILO aufgenommen."
Indiens Wirtschaft ist es in den letzten Jahren gut ergangen. Dies ist auch im Zentrum von Ahmedabad zu sehen, wo neue Mega-Einkaufszentren errichtet worden sind. Es haben aber diese in sich abgeschlossene Viertel aufkommen lassen, in denen die Armen nichts zu suchen haben.
Nach Meinung von Ela Bhatt verbraucht die mehr und mehr am Wohlstand teilhabende Mittelklasse einen immer grösseren Anteil der natürlichen Resourcen des Landes. Die Mittelklasse erkennt die Bedeutung der inoffiziellen Wirtschaft nicht an, obwohl sie das Rückgrat der gesamten Wirtschaft darstellt. Über 90 % von Indiens Arbeitskräften sind in in der inoffiziellen Wirtschaft beschäftigt, sie bringt ca. 60 % des Bruttosozialprodukts des Landes auf und deckt ca. 40 % des Exports ab.
"Neuerdings wird die Macht immer mehr und mehr an die großstädtische, gut ausgebildete Elite abgetreten. Ich bin darüber sehr enttäuscht, manchmal sogar zornig. Nach der Unabhängigkeit hätte die Mittelschicht die Möglichkeit gehabt, die feudale Gesellschaft in eine demokratische umzuwandeln. Aber es kam genau das Gegenteil davon. Die Mittelschicht war noch mehr als davor auf sich selbst fixiert und wurde noch selbstsüchtiger, ihr kam es nur auf den Vorteil der eigenen Nachkommen an.
Für SEWA gibt es noch viel zu tun. Wir haben bereits ein Stimmrohr. Ich hoffe, daß die in den ausserhalb der amtlichen Wirtschaft Beschäftigten nicht stillhalten. Die zarte Revolution hat begonnen."
(ein Beitrag der Serie Wortreihen des Ersten Finnischen Rundfunks YLE von Tapio Tamminen vom 7.3.2007, übersetzt aus dem Finnischen)
Es wurde zu Ende des letzten Jahres in Indien ein Buch von Ela R. Bhatt mit dem Titel 'Wir sind arm, aber wir sind so viele (Die Geschichte von selbst-angestellten Frauen in Indien)' veröffentlicht. Dieses erzählt von SEWA, dem Berufsverband von selbstständigen Frauen, welcher in stattlichen drei Jahrzehnten zu einem beträchtlichen Einfluß-Faktor in Indien angewachsen ist.
Die Begründerin von SEWA Ela Bhatt hat in den letzten Jahren zahlreiche internationale Auszeichnungen für ihre Arbeit erhalten. Die Universität von Harvard und von Yale hat sie zum Ehrendoktor ernannt. Die als zarte Revolutionärin betitelte Bhatt wird als eine der bemerkenswertesten Figuren der Welt angesehen, die das Kleinunternehmertum vorangetrieben haben. Ihr Lebenswerk ist mit dem des im letzten Herbst mit dem Friedens-Nobel-Preis ausgezeichneten Mohammed Yunus verglichen worden.
Bhatt ist ein ermutigendes Beispiel davon, was ein einzelner Mensch tun kann, um die Welt zu verändern. Am Anfang waren es eine Handvoll anderer Frauen, die sich für ihre Idee von einer Frauenberufsvereinigung begeistern konnten. Mit den Jahren hat sich jedoch ein Netzwerk von 700'000 Menschen herausgebildet, welches gegenwärtig auch weltweit seinen Einfluß ausübt. Als wichtigste Zielgruppe von SEWA gelten die zu Hause arbeitenden Frauen, welche über die Hälfte von allen Lohnarbeit verrichtenden indischen Frauen stellen. Die erbrachten Arbeiten sind von verschiedener Natur, von herkömmlicher Handarbeit und Teppichflechten bis zum Zusammensetzen von Komponenten für Computer und Handy-Phones.
Aber wie fing alles an? Ela Bhatt erzählt folgendes von ihrer Entwicklung zum Nationalaktivisten im Zentrum der indischen Textilindustrie in Ahmedabad:
"Ich hatte gerade an der Uni abgeschlossen, im Jahre 1955, als mir die Stelle der jüngeren Rechtsanwältin im Textil-Arbeiter-Bund angeboten wurde. Dieser wurde dann zu meiner eigentlichen Uni. Meine ersten Wochen in dem von Männern beherrschten Arbeitsrecht waren nervenaufreibend. Selbst die geringsten Bemerkungen über meine Kleider oder über mein Kleinsein brachten mich aus meiner Fassung und ich fing zu stänkern an.
Ich bewunderte in fast allem Mahatma Gandhi, welcher den Textil-Arbeiter-Bund über drei Jahrzehnte davor gegründet hatte. Seine Ideen von einer einfachen Lebensart und von Gewaltlosigkeit sprachen meinen jungen Geist an.
Zu Ende der 1960er Jahre begann die Textilindustrie in Ahmedabad jedoch so langsam dahinzuwelken. Tausende von Beschäftigten wurden arbeitslos. Wenn ich in Familien zu Besuch war, fiel mir auf, daß ihr wirtschaftliches Auskommen auf die Arbeit der Frauen gestellt war. Während die Männer dafür kämpften, daß ihre Fabriken wieder aufmachten, müßten die Frauen den Lebensunterhalt für die Familie beschaffen gehen. Sie verkauften Obst und Gemüse auf der Straße, verrichteten auf dem Markt Arbeiten auf Bestellung oder suchten auf Wegen und Abfallplätzen nach Gegenständen, die wiederverwertet werden könnten. Damals sah ich es zum erstenmal, was es heißt, selbst sich zu beschäftigen auf einem nicht-offiziellen Markt - ausserhalb aller Arbeitsgesetze und Regelungen der Gesellschaft.
Als ich mir diese hart arbeitenden Frauen anschaute, erwachte in mir der starke Wunsch, etwas zu unternehmen. Der offizielle Arbeiterverband wollte ihnen nicht helfen. Als ich im Jahre 1969 von meiner Studienreise zu israelischen Kibbutzen zurückkehrte, wusste ich, was ich tun sollte: ich würde für Frauen, die in einer inoffiziellen Markttätigkeit beschäftigt sind, eine eigene Berufsgenossenschaft gründen. Der Grundgedanke war möglichst simpel. Der Verband entstand, indem alle ins gleiche Horn bliesen. Die Frauen mußten sich gegen niemanden stellen. Vereint hatte sie ihre eine Stimme - das reichte aus."
SEWA, bzw. der Verband selbständiger Arbeiterinnen, wurde im April 1972 gegründet. Ela Bhatt erzählt in ihrem Buch von tapferen Arbeitskumpanen von ihr, welche den Nerv hatten, geduldig an ihrer Seite zu kämpfen, zu Zeiten, als ihr eigener Glaube an die Sache zwischendurch schlappmachte.
Soopa Goba war eine ihrer frühesten Arbeitsgenossinnen. Goba war aus dem Nachbarstaat Maharashtra nach Ahmedabad gekommen, mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Wie zahllose andere verbrachte Goba ihre Nächte auf dem Bürgersteig. Tagsüber trug sie auf ihrem Kopf vom Bahnhof zu den Handelsläden riesige Bündel von Kleider. Goba verdiente an einem Tag zehn, zwanzig Rupien, aber die Hälfte des Lohns gingen an den Mittelsmann, der die Reise von ihrem Heimatdorf in die Großstadt organisiert hatte.
"Soopa Goba und ihre Arbeitskolleginnen gaben mir eine erste Lektion darüber, auf wie vielerlei Arten schutzlose Arbeiterinnen ausgenützt und gedemütigt werden können. Für die Wirtschaft von Ahmedabad stellte die Arbeit von Frauen wie Goba eine Notwendigkeit des Überlebens dar. Trotzdem verschlossen die Behörden der Stadt ihre Augen vor der Ausbeutung der Arbeiterinnen. In Wirklichkeit hatten sie deren Existenz nicht einmal anerkannt."
Neben dem Organisatorischen mußte SEWA auch die wirtschaftliche Position der Frauen stärken, damit sie von der Bank für den Start eines kleinen Unternehmens ein Darlehen von mittlerer Höhe erhalten würden. Dieses hat Ela Bhatt von einer anderen langzeitigen Arbeitskollegin gelernt.
"Chindaben sammelte auf der Straße und bei ihren wohlhabenden Nachbarn alles mögliche ein: Plastiktüten, zerrissene Kleider und Metallschrott. In ihrer Wohnung in den Slums fertigte sie mit ihrem Mann und ihren Kindern neue Produkte daraus an, die sie sonntags auf dem Flohmarkt entlang des Flusses verkaufen ging.
Chindaben mußte einige der Sachen, die sie brauchte, von einem Händler kaufen, der auch als ihr Bankier fungierte. Auf die gleiche Weise arbeiteten viele von Chindabens Arbeitskolleginnen. Die Frauen bezahlten an die privaten Geldverleiher aber horrende Zinsen, die sich auf 10 - 20 % am Tag belaufen konnten.
Im Dezember 1973 fragte mich Chindaben: 'Ela, warum gründen wir nicht einfach unsere eigene Bank?' Ich antwortete ein wenig betroffen: 'Weil wir kein Geld haben. Um eine Bank zu gründen, braucht man einen riesigen Betrag an Kapital.' Chindaben versetzte mir: 'Gut, wir mögen arm sein, aber wir sind viele.'
Ich verstand, daß dort die Idee lag. Auch ein kleines Kapital pro Kopf dürfte ausreichen. Wir gingen die Sache an, indem wir von jedem Mitglied von SEWA zehn Rupien erhoben. In einem halben Jahr hatten wir 71'000 Rupien, bzw. 1'400 Euro beisammen. Das reichte aus.
Die Behörden weigerten sich jedoch, die Bank zu registrieren, da die Eigentümer der Bank arme Frauen waren, des Lesens und Schreibens unkundig. Es wurde mir versichert, daß die Bank sehr bald zum Fall käme, die armen Frauen würden mir die Darlehen nicht zurückbezahlen. Zum Schluß gaben sie nach und die Bank wurde im Mai 1974 gegründet.
Die Befürchtung der Behörden erwies sich als gegenstandslos. Die Kunden aus den Slums hatten eine bessere Zahlungsmoral beim Zurückzahlen der Darlehen als die Kunden der Handelsbanken aus der Mittelschicht. Allmählich war SEWA in der Lage, sein Aufgabenfeld neben der Tätigkeit als Bank auf die Versorgung von Kindern, berufliche Lehrgänge, die Krankenpflege und das Versicherungswesen auszuweiten.
Es wurde für die Organisation als wichtig herausgestellt, daß die Frauen gut daran täten, alles übrige Geld in der Bank anzulegen. Vielfach war die Einzahlung gerade mal fünf Rupien, also zehn Cent. Auch brachte die Schreibunfähigkeit ihre eigenen Probleme mit sich. Man mußte in der Bank als Gegenstück zu einem geschriebenen Text verschiedene Symbole und Farben verwenden, damit die Frauen sie mit bestimmten Wörtern in Verbindung bringen konnten.
In ein paar Jahren wuchs das Eigenkapital der Bank auf 1,2 Millionen Rupien an. An Gewinn auf das Eigenkapital kam in den ersten Jahren 9 Prozent zusammen. Dieser wurde auf die nahezu 7'000 Aktionäre der Bank aufgeteilt. Die Bank bewilligte nicht nur Darlehen, sondern leitete die Kunden auch bei deren Investitionen an, ob es sich nun um den Ankauf einer Nähmaschine oder eines Ziehwägelchens handelte.
Die Bank von SEWA war von Anfang an ein gewinnträchtiges Unternehmen gewesen, obwohl deren Kunden mittellose Frauen sind. Oder erklärt im Gegenteil vielleicht gerade dies den wirtschaftlichen Erfolg der Bank, wie Ela Bhatt bemerkt hat.
"Die eigenen Ersparnisse der Frauen ließen ihr Selbstbewußtsein ansteigen. Zu Hause in der Familie weichte die Haltung der Männer auf: man mußte die Ehefrauen nunmehr als kooperative Partner, und nicht mehr als wirtschaftliche Belastung betrachten.
Der Erfolg unserer Bank führte im Jahre 1975 zu einer internationalen Konferenz, auf der wir zusammen mit der Ghanaerin Esther Ocloo und der US-amerikanischen Bankmanagerin Michaela Walsh die Idee von einer Weltbank für Frauen ausarbeiteten. Diese wurde dann vier Jahre später auch gegründet. Heutzutage ist die Bank eine extensive und lebenskräftige Kreditanstalt."
Neben der Bank hatte SEWA aber auch hunderte anderer Genossenschaften auf die Beine gestellt, wie z.B. kleine Meiereien, Handarbeitszentren oder Genossenschaftsläden. Auf den Dörfern sind Gruppen von 15 - 20 Frauen entstanden, die mit Hilfe eines minimalen Grundkapitals ein kleines Unternehmen aufgebaut haben, das sich zum Beispiel auf die Herstellung und Vermarktung von verzierten Strickwaren konzentriert. Auf diese Weise waren die Produkte sogar zu beachteten Modevorstellungen gelangt.
In den 1980er und 1990er Jahren musste SEWA seine Tätigkeit auf Nothilfen konzentrieren. Der Zuwanderungsstrom aus den Dörfern nach Ahmedabad
ließ die Einwohnerzahl der Millionenstadt schnell anwachsen. Gesellschaftliche Spannungen entluden sich in Form von Unruhen zwischen Hindus und Muslims. Die Situation wurde noch durch ein Erdbeben im Jahr 2001 verschlimmert. All jene Ereignisse setzten die ärmsten Bevölkerungsteile der Stadt einer scharfen Prüfung aus. Von den 100'000 Mitgliedern von SEWA verloren über 40'000 ihr Heim im Zuge der bitteren Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslims.
Die Zentrale von SEWA befindet sich weiterhin in Ahmedabad, aber sie hat Schwesterorganisationen in anderen Bundesstaaten ins Leben gerufen. Gegenwärtig gibt es in Indien in verschiedenen Bundesstaaten 10 SEWA-Vereinigungen, die tätig sind. Männer aber sind natürlich in der Organisation nicht zugelassen.
"Von Zeit zu Zeit gab es auch Männer, die sich uns hätten anschließen wollen. Ich selbst wäre schon bereit dazu gewesen, sie zu akzeptieren, so daß aus uns eine noch stärkere Gruppe würde, die einen Einfluß im ganzen Lande ausübt. Aber die Mehrheit der Frauen hatte sich geweigert, Männer als Mitglieder aufzunehmen. Die Männer würden in ihrem Streben nach Macht nur Spannungen mit sich bringen. Ein weiterer Grund war der, daß sich die Frauen ihre Ersparnisse ausserhalb des Zugriffs ihrer Männer halten wollten. Ich bin auch nun zufrieden mit dem Entschluß der Frauen. Vom Standpunkt der Organisation her war dies letztlich doch die beste Entscheidung."
Seit Beginn des letzten Jahrzehnts haben den Tätigkeitsbereich von SEWA nicht nur die Zunahme von religiös-politischen Unruhen, sondern auch die Globalisation einer Veränderung ausgesetzt.
"Der Charakter der Arbeit ist laufend im Wandel begriffen. Wirtschaftswissenschaftler nahmen lange Zeit an, daß sämtliche Arbeit in den Entwicklungsländern allmählich in den Bereich der offiziellen Wirtschaft überginge, nach Art von den industrialisierten Ländern. Im Zuge der Globalisation ist es aber anders gekommen, ganz im Gegenteil: Arbeitsanheuerung, Gelegenheitsarbeiten und verschiedenerlei Stückelarbeiten haben sich nun auch in der sogenannten offiziellen Wirtschaft ausgebreitet. Dies passiert nicht nur in Ahmedabad, sondern überall.
Wenn die Unternehmen sich verglobalisieren, muß das Sich-Organisieren der Arbeitnehmer auch die Grenzen eines Staates überschreiten. Insbesondere betrifft dies den inoffiziellen Markt: es reicht nicht mehr aus, daß SEWA in Indien tätig ist, sondern es muß seine Kräfte mit vergleichbaren Organisationen anderer Länder vereinen. Schwesterorganisationen von SEWA sind in Südafrika, der Türkei und in Yemen gegründet worden. Auch waren wir aktiv mit dabei, internationale Netzwerke für Selbständige,
wie z.B. HomeNet, zu schaffen. Dieses wurde zum Schluß als Ergebnis eines langen Kampfes in der Internationalen Arbeitsorganisation ILO aufgenommen."
Indiens Wirtschaft ist es in den letzten Jahren gut ergangen. Dies ist auch im Zentrum von Ahmedabad zu sehen, wo neue Mega-Einkaufszentren errichtet worden sind. Es haben aber diese in sich abgeschlossene Viertel aufkommen lassen, in denen die Armen nichts zu suchen haben.
Nach Meinung von Ela Bhatt verbraucht die mehr und mehr am Wohlstand teilhabende Mittelklasse einen immer grösseren Anteil der natürlichen Resourcen des Landes. Die Mittelklasse erkennt die Bedeutung der inoffiziellen Wirtschaft nicht an, obwohl sie das Rückgrat der gesamten Wirtschaft darstellt. Über 90 % von Indiens Arbeitskräften sind in in der inoffiziellen Wirtschaft beschäftigt, sie bringt ca. 60 % des Bruttosozialprodukts des Landes auf und deckt ca. 40 % des Exports ab.
"Neuerdings wird die Macht immer mehr und mehr an die großstädtische, gut ausgebildete Elite abgetreten. Ich bin darüber sehr enttäuscht, manchmal sogar zornig. Nach der Unabhängigkeit hätte die Mittelschicht die Möglichkeit gehabt, die feudale Gesellschaft in eine demokratische umzuwandeln. Aber es kam genau das Gegenteil davon. Die Mittelschicht war noch mehr als davor auf sich selbst fixiert und wurde noch selbstsüchtiger, ihr kam es nur auf den Vorteil der eigenen Nachkommen an.
Für SEWA gibt es noch viel zu tun. Wir haben bereits ein Stimmrohr. Ich hoffe, daß die in den ausserhalb der amtlichen Wirtschaft Beschäftigten nicht stillhalten. Die zarte Revolution hat begonnen."
libidopter - 4. Mai, 09:44