Nicht tief einatmen
Obwohl das Kriegsgericht letztlich seine Arbeit begonnen hat, haben die Kambodschaner immer noch nicht mit der Tragödie ihrer jüngeren Vergangenheit abrechnen können - mit dem gnadenlosen Erbe von Pol Pot und der Khmer Rouge. Jetzt ist eine neue Jammertragödie im Land am Entstehen, welche kleiner, langsamer und stiller wirkt als die vorhergehende, aber für viele genauso tödlich ist.
Die gefährliche Kombination von Hunger und Krankheiten fordert heimtückisch ihre Opfer innerhalb von Kambodschas Ärmsten. Die Zahl der Toten wird diesmal in den Tausenden, nicht in den Millionen gerechnet, aber dies ist ein schwacher Trost. Über 70'000 Kambodschaner, die an Hiv oder Aids erkrankt sind, sowie 18'000 Tuberkulosepatienten leiden an Hunger.
Weshalb ist die Situation so schlimm? Vormals war das
Welt-Ernährungs-Programm WFP in der Lage, Lebensmittelhilfen anzubieten, mittels von welchen diese in einer geschwächten Position befindlichen Menschen zurechtkamen. Gegenwärtig sind die Lebensmittelhilfen des WFP schon über etliche Monate hinweg eingestellt, da man die weitere Finanzierung von den Spendern der Hilfen nicht erhalten hat. Zehntausende von Mitmenschen sind aufgrund des Fehlens von ein paar Millionen Dollar in höchster Gefahr.
Hier in den westlichen Ländern denken wir gar nicht so viel über die Wichtigkeit des Essens, der Ernährung und Gesundheit nach, wenn es nicht gerade darum geht, den Gürtel enger zu schnallen. In Kambodscha hingegen hat das Essen immer noch eine beträchtliche Macht, die auf das Leben der Menschen Einfluß nimmt.
Tausende von Kambodschas armen Tuberkulosepatienten kommen bis ans Ende ihrer Behandlung jeden Tag, ihre Medikamente abholen, da sie zugleich eine Handvoll Reis und einen Löffelvoll Öl zum Kochen erhalten. Ohne Nahrung sind die starken Nebenwirkungen der Medikamente und das Fernbleiben von zuhause während der Behandlung für einen Teil der Kranken unerträglich. Viele Patienten geraten deshalb in die Lage, daß sie die Behandlung vorzeitig beenden.
Weshalb sollte dieses gewöhnliche Menschen aus Helsinki, aus Tampere oder aus Rovaniemi weiters bewegen? Die Weltbank und eine Schar von Wissenschaftlern für die Entwicklung der Wirtschaft würden dem Anfragenden
unumwunden zur Antwort geben, daß derlei Maßnahmen das wirtschaftliche Wachstum kaum beträchtlich anwachsen ließe.
Eigentlich dürfte es klar sein, daß der Einsatz eines gewöhnlichen Tuberkulose- und Aidspatienten fürs Bruttosozialprodukt oder dafür, die Globalisation der Wirtschaft voranzutreiben, nicht besonders groß ist.
Vielleicht rührt auch die Geringfügigkeit der angebotenen Hilfe gerade daher: Kranke sieht man nicht als gute Anlageobjekte an. Die kalte Logik des Kapitalismus verrichtet ihr Werk.
Die Tuberkulose ist nicht nur in Kambodscha, und auch nicht nur in Südost-Asien verbreitet, sie gibt es auch in Europa. Eine gegen Medikamente resistente Form der Tuberkulose hat sich in Gefängnissen der USA, in Rußland und in Südafrika gezeigt. Eine kleine Pandemie, verursacht durch eine XDR-Tuberkulose, forderte in Südafrika 52 Todesopfer aus 53 Erkrankten ein. Wenn diese Erkrankten in den Zirkel von einer bestmöglichen Behandlung gekommen wären, hätte die Behandlung pro Patient über 40'000 Euro gekostet. Die Armen verfügen natürlich nicht über solche Mittel. Deshalb sterben sie denn auch.
Warum machen wir nichts in dieser Angelegenheit? Tuberkulose-Experten haben versucht, uns zu warnen, aber die Medien sind auf das Vorkommen von Vogelgrippe in britischen Truthähnen konzentriert, obwohl die Ausbreitung der XDR-Tuberkulose eine wesentlich ernstzunehmendere Bedrohung für uns alle darstellt. Jeder dritte Mensch auf der Welt ist Träger des die Tuberkulose auslösenden Mykobakteriums. In all diesen kann die Tuberkulose zum Ausbruch kommen, aber für die Unterernährten ist die Gefahr besonders hoch. Unter jungen Menschen und Erwachsenen ist die Tuberkulose heutzutage die am auffälligsten tötende Erkrankung, die wir grundsätzlich in der Lage wären, zu heilen.
In Kambodscha ist der Erscheinungsgrad sowohl von Tuberkulose als auch von Aids der höchste in Südost-Asien. Das Gesundheitspflegesystem des Landes sieht sich in keiner Position, der Bürde Rechnung zu tragen.
Ein durchschnittlicher Kambodschaner erhält jährlich Dienstleistungen der Gesundheitspflege für 25 Euro, wovon die Regierung des Landes 5 Euro bezahlt. Wir könnten die Situation mit Finnland vergleichen: dort wird für die Gesundheitspflege pro Einwohner jährlich über 1600 Euro aufgebracht, wovon über Dreiviertel vom Staat kommen.
In Finnland und den anderen entwickelten Ländern kommt der Diät der Patienten hohe Aufmerksamkeit zu. Wir wissen, wie sehr die Ernährung Einfluß hat beim Heilungsprozeß.
Die Menükarten der Krankenhäuser lassen einem im allgemeinen nicht das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber sie sind auf wissenschaftlichen Grundlagen ausgearbeitet, um den Bedürfnissen der Patienten zu entsprechen. Solch einen Luxus kennt man in Kambodscha und in den anderen armen Ländern nicht. In den Entwicklungsländern reichen die Mittel oft nicht für Grundnahrungsmittel aus, mittels welcher die an Tuberkulose und Aids Leidenden zurechtkämen.
Keine andere humanitäre Hilfsleistung - geschützte Wohnung, Impfungen, Schulung und der Schutz durch das Gesetz - sind trotz aller Wichtigkeit genauso unabdingbar und zwingend notwendig wie das Essen. Welchen Sinn macht es, Milliarden an Euro für Medikamente aufzuwenden, und von der Seite aus zuzusehen, wie die Kranken an Hunger sterben?
In Siem Reap in der Nähe der mächtigen Tempelanlagen von Ankor Wat gibt es einen neuzeitlichen Flughafen sowie internationale Prachthotels wie das Meridien und Sofitel, welche ihren wohlhabenden Gästen ein Frühstück für 15 Dollar anbieten.
Seidene Tücher, Elephantenausritte, Photos von den sprachlosmachend schönen Tempelzinnen im Abendrot - all das, was wir Europäer an Kambodscha so schätzen, ist für uns auch zu haben, wenn wir auch wiederum unsere Augen vor dem Leiden der Kambodschaner verschließen werden und die Aids- und Tuberkulosepatienten, versteckt vor unseren Blicken, langsam an Hunger zugrunde gehen lassen.
Wir werden weiterhin die Urlaubsfreuden, die uns Kambodscha und dessen arme Schicksalsgenossen in Afrika anbieten,
geniessen können. Bald jedoch wird es sich der Urlauber nicht mehr leisten können, auf seinen Reisen besonders tief einzuatmen.
Ein Bericht von Jean Ziegler für das finnische Untergrundblatt Voima,
übersetzt aus dem Finnischen
(Jean Ziegler ist Spezial-Berichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung)